Was zu Gunsten von Europa aufwärts dem Spiel steht – nicht nur in welcher Verteidigung

Seine Überzeugung, Europa nicht als Idee, sondern als Auftrag zu verstehen, dem Wohle der Menschen dienende „Tatsachen“ zu schaffen, passt in unsere Zeit, in der viele Menschen bezweifeln, dass Europa ihnen mehr Vor- als Nachteile bringt. „Europa muss sich rechnen“, lautet der Titel eines aktuellen Buchs aus der Feder Gabriel Felbermayrs. „Die Vorteile der europäischen Integration müssen spür- und sichtbar sein, sie müssen die nicht zu bestreitenden, ebenfalls existierenden Nachteile klar überwiegen“, schreibt der Wiener Ökonom. „Der Fokus muss auf dem Mehrwert Europas liegen. Damit ist gemeint, dass Europa mit Ergebnissen überzeugen muss, nicht mit Mythen oder Symbolpolitik oder, wie so oft in jüngerer Zeit beschworen, mit den scheinbar geeigneten ‚Narrativen‘.“

Es geht darum, in einer Welt mit wachsenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konflikten die Stärken eines gemeinsamen Europas zu nutzen, aber gleichzeitig die Vielfalt, die Europa auch kennzeichnet, zu respektieren. Die daraus entstehenden Spannungen seien anhand weniger aktueller Themen geschildert, die allesamt eine ordnungspolitische Dimension besitzen.

Kleinere Länder lehnen Souveränitätsverzicht ab

So begünstigen geopolitische Herausforderungen einen neuen Anlauf, das vor fast genau zehn Jahren vom damaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker skizzierte Projekt einer Kapitalmarktunion zu beleben. „Um die Finanzierung unserer Wirtschaft zu verbessern, sollten wir die Kapitalmärkte weiterentwickeln und integrieren. Dies würde die Kosten für die Kapitalbeschaffung für kleine und mittelgroße Unternehmen erheblich senken und dazu beitragen, unsere sehr hohe Abhängigkeit von Finanzierungen durch Banken verringern“, hatte Juncker am 15. Juli 2014 vor dem Europäischen Parlament gesagt. „Dies würde auch die Attraktivität Europas als Investitionsstandort steigern.“

Eine Kapitalmarktunion dient nicht nur den Partikularinteressen der Finanzbranche; sie bildet eine Voraussetzung für eine Stärkung der Wachstumskräfte in der gesamten Europäischen Union. Juncker wollte mit seiner Initiative zudem den an freiem Kapitalverkehr interessierten, vor einem Brexit-Votum stehenden Briten einen Anreiz geben, in der Europäischen Union zu bleiben.

Der Grundgedanke war nicht neu. Die Freiheit des Kapitalverkehrs zählt zu den vier grundsätzlichen Freiheiten, die sich mit dem Gemeinsamen Binnenmarkt verbinden. Er ist und bleibt eine wichtige Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der Europäischen Union, auch weil er durch seine Größe einen gewissen Schutz gegen externe wirtschaftliche Schocks bietet. Der Gedanke eines Binnenmarkts erfreut das Herz liberaler Ordnungsökonomen.

Aber dieser Markt bleibt in der Praxis unvollkommen – und seit der Ära des frühen Kommissionspräsidenten Jacques Delors ist seine Bedeutung immer mehr in Vergessenheit geraten. So brachten mehrere Anläufe zur weiteren Liberalisierung des Kapitalmarkts keinen Durchbruch. Denn eine Kapitalmarktunion beruht auf gemeinsamen Regeln unter anderem auf dem Gebiet der Besteuerung von Unternehmen und des Insolvenzrechts. Doch vor allem kleinere Mitgliedsländer lehnen den mit gemeinsamen Regeln verbundenen Souveränitätsverzicht ab.

Berlin und Paris drängen auf Tempo

Einfach wird die Verwirklichung daher nicht. „Es gibt auf dem Gebiet der Kapitalmarktunion keine niedrig hängenden Früchte zu ernten“, warnte EZB-Präsidentin Christine Lagarde im vergangenen Jahr. Um das für die Allgemeinheit allzu technokratisch klingende Projekt gefälliger einzukleiden, haben es die in politischem Marketing versierten Franzosen in „Union der Ersparnis und der Investition“ umgetauft. Das wirkt gescheit, wird aber nicht reichen.

Mehr als Marketing könnte das Gefühl des Zwangs in schwierigen Zeiten das Projekt nun vorantreiben, zumal Berlin und Paris in seltener Eintracht auf Tempo drängen. Die Europäische Union droht im wirtschaftlichen Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China zurückzufallen, obgleich die private Ersparnisbildung in der Europäischen Union jene in den Vereinigten Staaten erheblich übertrifft und die für umfangreiche Investitionen notwendigen Investitionen mit heimischen Mitteln überwiegend finanziert werden könnten.

Private Investitionen werden notwendig

Ein signifikanter dreistelliger Milliardenbetrag an Ersparnissen fließt allerdings jedes Jahr aus der Europäischen Union in andere Weltgegenden, weil anderswo erfolgversprechender investiert werden kann. Da es in Amerika einfacher gelingt, Risikokapital zu generieren, streben manche innovative europäische Unternehmen an amerikanische Börsen. Eine Kapitalmarktunion könnte nach Ansicht ihrer Befürworter einen attraktiven Rahmen für mehr Investitionen in Europa schaffen – in die digitale wie in die grüne Transformation, in Infrastruktur, in Bildung, in Künstliche Intelligenz und für Verteidigungszwecke.

Die Mobilisierung privaten Kapitals erscheint umso notwendiger, als Staatsverschuldung zunehmend an institutionelle Grenzen (wie die Schuldenbremse in Deutschland) und angesichts zunehmender Zweifel an der Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung in einigen Ländern – und damit der Union als Ganzes – aber auch an marktliche Grenzen zu stoßen droht.

So genießen die für den gemeinsamen „Next Generation“-Fonds begebenen europäischen Anleihen zwar das offizielle „AAA“-Rating der Europäischen Union. Aber der Markt bezahlt die Anleihen in etwa wie Staatsanleihen Spaniens, dessen Bonität offiziell nur mit „A“ bewertet wird. Nicht nur aus praktischer, auch aus ordnungspolitischer Sicht erscheint eine stärkere Fokussierung auf die Finanzierung privater Investitionen geboten.

EZB warnt vor hohen Schuldenständen

Hohe Schuldenstände machten die Staaten des Euroraums anfällig für negative Schocks, vor allem wegen der strukturell bedingten Schwäche der Produktivität und des niedrigen Potenzialwachstums, warnt die Europäische Zentralbank in einem Bericht zur Finanzstabilität. Der Eifer, mit dem nicht wenige Politiker und ihnen nahestehende Ökonomen in Europa derzeit auf eine Lockerung staatlicher Schuldenregeln drängen, wirkt daher fast schon wie eine intellektuelle Verirrung.

Doch wie sollen widerstrebende nationale Regierungen zum Souveränitätsverzicht überredet werden? In einer Studie für das Europäische Parlament hat der Ökonom Nicolas Véron als ersten Schritt die französische Idee einer europäischen Kapitalmarktaufsicht präsentiert, die Befugnisse der nationalen Behörden übernehmen könnte. So ließen sich Kosten sparen und die Transparenz erhöhen, was einem gemeinsamen Markt zugutekäme. Etablieren ließe sich die Kapitalmarktaufsicht demnach durch eine Umgestaltung der in Paris ansässigen europäischen Börsenaufsicht (ESMA). Auf Einstimmigkeit im Kreis der EU-Mitgliedstaaten kann dieser Vorschlag derzeit allerdings nicht hoffen.

Kapitalmarktunion im kleinen Kreis?

Zwei unterschiedliche Wege beschreibt eine Analyse aus dem Frankfurter SAFE-Institut. Als Alternative zu einer von den nationalen Regierungen und Brüssel geplanten Ordnung nennt sie spontanes Vorgehen, bei dem die Teilnehmer an den Kapitalmärkten sich an der für sie besten nationalen Ordnung orientieren. Am Ende könnte auf europäischer Ebene die durchsetzungsstärkste nationale Ordnung etabliert werden.

Einer der Autoren der Studie, Tobias Tröger, führt Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten als Vorbild an. Ein vom SAFE-Institut organisiertes Webinar unter Beteiligung Vé­rons zeigte allerdings, wie sehr die Vorstellung einer „spontanen“ Ordnungsbildung einem in Frankreich verbreiteten cartesianischen Denken widerspricht.

Eine Pariser Arbeitsgruppe unter Leitung des ehemaligen Gouverneurs der Banque de France Christian Noyer will mit dem Vorschlag, ein langfristig ausgerichtetes europäisches Sparprodukt zu schaffen und den Markt für verbriefte Kapitalmarktprodukte zu fördern, die Debatte anregen. Die Gruppe reagiert auf die Einschätzung, ein stärker auf die Rolle der Banken als – wie in den englischsprachigen Ländern – auf die Rolle von Kapitalmärkten ausgerichtetes kontinentaleuropäisches Finanzsystem benötige eine ausgeprägtere Marktorientierung.

Um den Prozess zu beschleunigen und den Widerständen vor allem kleinerer Mitgliedsländer aus dem Weg zu gehen, schlägt Paris vor, die Kapitalmarktunion mit einem kleineren Kreis williger Teilnehmer zu beginnen. „Am Ende müssen die Staats- und Regierungschefs über das Projekt entscheiden“, sagt Véron.

Äußere Sicherheit als Voraussetzung für innere freie Märkte

Unterschiedliche Vorstellungen der Mitgliedsländer prägen auch ein zweites, sehr zeitgemäßes Unterfangen: die Sicherheit Europas. Äußere Sicherheit als unbedingte Voraussetzung für das Wohl eines Gemeinwesens war schon im 18. Jahrhundert Adam Smith, dem Vater der Volkswirtschaftslehre, bekannt gewesen. Zum aus der Sicht der Ordnungspolitik notwendigen staatlichen Rahmen, der im Inneren freie Märkte und Wettbewerb abzusichern hat, gehört zweifellos der Schutz der Außengrenzen. Der Zeitgeist hatte diese einfache Erkenntnis jedoch in Vergessenheit geraten lassen.

Erst der Angriff Russlands auf die Ukraine hat der Europäischen Union verdeutlicht, wie sehr die europäischen Länder der Illusion einer dauerhaften Friedensdividende nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) verhaftet geblieben waren. Viele Länder gaben für Verteidigung weniger aus als die von der NATO empfohlenen 2 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr, die Streitkräfte waren unzureichend ausgerüstet, das Beschaffungswesen litt unter Ineffizienzen, und die Militärindustrie war zersplittert.

Kommission will Rüstungsindustrie ankurbeln

Das lange Bangen um eine weitere, bitter notwendige amerikanische Militärhilfe für die Ukraine im Frühjahr 2024 verdeutlichte den deplorablen Zustand der europäischen Militärindustrie. Nicht, dass kein Geld bereitstand: Die Verteidigungsausgaben in der Europäischen Union beliefen sich im vergangenen Jahr auf 270 Milliarden Euro – mehr als jemals zuvor.

Doch wurden die vorhandenen Mittel nicht effizient verwendet; zudem waren sie offenkundig nicht ausreichend. Nach einer Berechnung der Kommission hätten die Mitglieder der Union im Falle einer Akzeptanz des 2-Prozent-Ziels der NATO zwischen 2006 und 2020 sage und schreibe 1100 Milliarden Euro mehr für Verteidigung ausgegeben.

Nie um einen Plan verlegen, präsentierte die Kommission am 5. März 2024 eine Industriestrategie, mit der die Mitgliedsländer in die Lage versetzt werden sollten, „mehr, besser, gemeinsam und in Europa zu investieren“, wodurch eine „effizientere und reaktionsfähigere technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung, die auf eine erhöhte Versorgungssicherheit gestützt ist, erreicht werden“ soll. Im Jahre 2030 sollen mindestens 60 Prozent der Beschaffungsausgaben der Mitgliedstaaten an Unternehmen in der EU gehen; mindestens 40 Prozent der Ausgaben könnten in gemeinsame Projekte fließen.

Europa verlässt sich in der Rüstungsindustrie auf Amerika

Der Umsatz der Militärunternehmen aus der EU beträgt rund 70 Milliarden Euro; beschäftigt sind in diesen Unternehmen etwa eine halbe Million Menschen. Im Vergleich: Die amerikanischen Unternehmen kommen auf einen Umsatz von mehr als 300 Milliarden Euro. Daher bleibt die in der Welt mit weitem Abstand dominierende amerikanische Industrie ein harter Wettbewerber, zumal viele europäische Regierungen, darunter auch die Bundesregierung, traditionell einen wichtigen Teil ihrer Beschaffungsausgaben amerikanischen Unternehmen zukommen lassen. Damit wird nicht nur die führende Rolle der amerikanischen Industrie honoriert, sondern auch die Tatsache, dass sich Europa seit Jahrzehnten auf den militärischen Schutzschirm der Vereinigten Staaten verlässt.

Aus einer fachlichen Sicht besitzt die europäische Militärindustrie die Voraussetzungen für wettbewerbsfähige Produkte. Doch scheitern die besten Pläne, wenn nationale Eifersüchteleien dominieren und teure Ineffizienzen die Folge sind. Die Exzellenz von Airbus als Hersteller großer Zivilflugzeuge kann niemand bestreiten, aber die Geschichte des militärischen Transportflugzeugs A400M beinhaltet ein ausführliches Kapitel, das von Verzögerungen und ausufernden Kosten erzählt.

Weniger im Rampenlicht stehend, aber nicht weniger bezeichnend ist die Schwäche der Europäer im Geschäft mit Trägerraketen der Typen Ariane und Vega. Auch die mühsamen Versuche Deutschlands und Frankreichs, sich auf die Entwicklung und Herstellung eines Kampfflugzeugs und eines Panzers zu einigen, verlaufen nicht ohne Dramen. Die von Schuman vor 74 Jahren angemahnte „Solidarität der Tat“ bleibt im europäischen Militärgeschäft bis heute ein allzu knappes Gut. Allein mit mehr Geld wird sich daran nichts ändern.

Der Sicherheitsbegriff weist heute weit über militärische Sicherheit hinaus. Als wirtschaftliche Sicherheit wird ein Zustand begriffen, in dem ein Land oder ein Staatenbund die Fähigkeit besitzt, auch mit Verschlechterungen des wirtschaftlichen Umfelds als Folge geopolitischer Spannungen umzugehen. Die Aufgabe besteht darin, in einer interdependenten Welt Risiken – etwa für die Versorgung mit Rohstoffen oder für globale Lieferketten – zu reduzieren, ohne unnötig wirtschaftliche Wachstumspotenziale zu opfern.

Dies erfordert eine wirtschaftliche, aber auch politische und zunehmend auch eine militärische Macht, über die kein einzelnes Mitglied der Europäischen Union verfügt. „Auch das größte und wirtschaftlich stärkste Land in Europa, Deutschland, ist im globalen Maßstab für sich genommen ein sehr kleiner Spieler“, erinnert Felbermayr.

Die Interessenlagen der Mitgliedstaaten bleiben jedoch verschieden. Deutschland äußert angesichts seiner tiefen wirtschaftlichen Verflechtung mit dem Ausland ein auch ordnungspolitisch naheliegendes Interesse an der Bewahrung einer freiheitlichen Weltwirtschaftsordnung, während andere Länder eher geneigt sein könnten, Europa als aktiven Teilnehmer an globalen Subventions- und Zollwettläufen zu beteiligen. Bis zu Schumanns „Solidarität der Tat“ ist es auch auf diesem Gebiet noch weit.