Wahl in Deutschland: Seid wachsam!

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Erstarkt eine Partei, die faktisch mit der Forderung
„Ausländer raus“ antritt, vernimmt man als jemand, der aus einem autokratisch regierten Staat nach Deutschland gekommen ist, die Alarmglocken intensiver und früher
als andere. Im eigenen Land hat man – vermutlich aus politischen
Gründen – den Slogan „Raus!“ bereits gehört und hat es deshalb verlassen. Dass der
Slogan hier in Deutschland in einer anderen Sprache ertönt, ändert nichts. Würde
man „rausgeworfen“ und kehrte „heim“, würde auf einen dort das Gefängnis warten.
Natürlich fürchtet man auch, eine weitere der ohnehin immer rarer werdenden
Oasen der Demokratie könnte gefährdet sein. So waren die verschiedenfarbigen Balken, die am deutschen Wahlabend für die Parteien auf dem Bildschirm
auftauchten, gleichsam ein Thermometer für mich, das hohes Fieber anzeigte.
Eben dieses Fieber hat uns zuvor unser Land genommen. Springt jetzt dasselbe
Virus auf das Land über, in das wir gegangen sind?

Natürlich lässt sich darüber streiten, inwiefern die
Umstände, das Virus, die Widerstandskräfte einander ähneln. Ist man dieser
Seuche aber einmal entkommen, will man seinen Freunden berichten, was einem
widerfahren ist, und mahnen: „Seid wachsam!“ Das möchte ich hier tun und am
Beispiel der Türkei schildern, wie eine antidemokratische Bewegung die
Demokratie beseitigt hat – indem sie sie benutzte. Verschiedene Faktoren und Handlungen waren ihr behilflich.

Erstens: Die Bewegung war nicht die
Ursache des Problems, sondern sein Resultat.
Vor Erdoğans AKP regierte ein
geschwächter sozialdemokratischer Ministerpräsident die Türkei mit einer
Drei-Parteien-Koalition. Die politische Krise von 2001 zog einen massiven
wirtschaftlichen Niedergang nach sich. Nur sechs Monate nach der Krise gründete
Erdoğan seine Partei und wurde zur Hoffnung für die von der Krise betroffenen
Massen.

Zweitens: notwendiger Wandel. Das System steckte in der Sackgasse. Die Wähler waren enttäuscht
von schwachen Koalitionen und koalitionsinternen Streitereien. Bei
einem großen Erdbeben, das nahezu 20.000 Menschen das Leben kostete, hatte die
Regierung sich nicht als guter Krisenmanager erwiesen. Die Wähler wünschten
sich eine starke, stabile Regierung. Der junge Erdoğan stand für etwas Neues
und profitierte nicht zuletzt von dieser Welle der Verzweiflung und dem
Verlangen nach Stabilität.

Drittens: Unterstützung
der USA.
Vier Wochen nach Gründung der AKP wurden die Anschläge vom 11.
September verübt. Die USA bereiteten einen Militäreinsatz im Irak vor und
brauchten dafür die Stützpunkte in der Türkei. Die Bush-Administration erkannte, dass
Erdoğan ihr dienlicher sein würde als der sozialdemokratische Premier, der ihr ständig Schwierigkeiten machte. Man unterstützte Erdoğan offen. Das änderte
die Gleichung.

Viertens: das
schwache demokratische Fundament.
Noch in seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul
hat Erdoğan gesagt, die Demokratie sei eine Straßenbahn, am Ziel angekommen,
würde man aussteigen. Er verfolgte Identitätspolitik, instrumentalisierte die
Religion, diskriminierte seine Kontrahenten, schürte Ängste. Dennoch wurde er
im Westen als liberal dargestellt. Die Mittel der Demokratie, von denen er
gesagt hatte, nicht an sie zu glauben, benutzte er, um sie zu ruinieren.

Fünftens: Ausgrenzung.
Die Parteien der Mitte und die Medien grenzten die AKP gemeinsam aus. Das aber
brachte Erdoğan in die Position, allein gegen alle zu stehen. Die AKP wurde zur
Zuflucht für diejenigen, die über das Establishment klagten. Als die Koalition von
Mitte-rechts und Mitte-links zerbrach, wurde Erdoğans Partei zur einzigen
Alternative.

Sechstens: die
politische Geografie.
Der liberal-demokratischen Haltung in den Großstädten
und Küstenstreifen stand in der Türkei, wie in vielen anderen Ländern auch, auf
dem Land eine konservative gegenüber. Mit dem Sinken des Bildungsniveaus erstarkte
der Nationalismus, was wiederum die AKP aufsteigen ließ. In den Wahlen 2002
brach die Zustimmung für alle drei Parteien der Regierungskoalition ein, Erdoğan hingegen ging
mit 34 Prozent als Sieger hervor und konnte allein die Regierung bilden.

Siebtens: Ansteckungseffekt. Die AKP machte sich in kürzester Zeit daran, in
sämtlichen Bereichen, von Verwaltung bis Justiz, von Bildungswesen bis hin zur
Armee, das demokratische System der Türkei auszuhöhlen. Wer sich wehrte, wurde mit falschen
Anschuldigungen überzogen. Der Stimmenzuwachs für die Partei bei jeder weiteren Wahl
führte dazu, dass die anderen Parteien sich ihren Positionen annäherten. Infolge dieses Ansteckungseffekts wurde das System von Grund auf umgebaut.

Achtens: Verbotsversuche.
Um ihn aufzuhalten, inhaftierte die von Laizisten dominierte Militärbürokratie
und Justiz Erdoğan zunächst. Das machte ihn als vermeintliches Opfer aber nur noch
populärer. Sechs Jahre nach ihrem Regierungsantritt wurde ein Verbotsverfahren
gegen die AKP angestrengt. Doch es war zu spät. Das Verfassungsgericht lehnte
die Verbotsforderung des Generalstaatsanwalts mit fünf gegen sechs Stimmen ab.

Neuntens: das
Resultat.
Nachdem sie an der Regierung mit den Mitteln des Staates groß
geworden war, bemächtigte sich die AKP der Justiz und der Medien und baute die
laizistische Bürokratie, die Armee, das Kapital und das Hochschulwesen um. Den
Putschversuch von 2016 nutzte Erdoğan als Vorwand für eine massive Unterdrückung der
Opposition. Jetzt bringt er mit der Hilfe von Richtern unter seinem Diktat seine
Kontrahenten hinter Gitter, holt sich die bei Wahlen verlorenen Kommunen zurück
und trifft Vorbereitungen für die Schließung des Verfassungsgerichts, vor dem
einst gegen seine Partei verhandelt wurde.

Recep Tayyip Erdoğans Türkei steht uns als ein Beispiel vor Augen, an dem zu
beobachten ist, was geschieht, wenn demokratische Politik vor der extremen
Rechten kapituliert – und unterliegt.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe