Wahl im Vereinigten Königtum: Nicht viel Zeit für jedes den Triumph

Es ist nicht das Jahrhundertereignis, das prophezeit wurde. Aber in der Unterhauswahl des Vereinigten Königreiches hat Oppositionsführer Keir Starmer am Donnerstag einen überwältigenden Sieg für die Labourpartei errungen. Nach Hochrechnungen in der Nacht wird Labour mit einer gewaltigen Mehrheit von 170 Sitzen im Unterhaus regieren. Das ist marginal weniger, als der ehemalige Premierminister Tony Blair in der Wahl im Jahr 1997 erzielte. „Der Wechsel fängt an … jetzt müssen wir liefern“, sagte Starmer am Wahlabend. Der bisherige Premierminister Rishi Sunak gratulierte dem Labour-Chef zu seinem Wahlsieg. „Das ist (für uns) ein ernüchterndes Erlebnis. Es tut mir leid“, sagte er.

Labour wird Hochrechnungen zufolge etwa 410 der 650 Abgeordneten ins Unterhaus schicken, weit mehr als die Konservativen, die nur noch 131 Sitze im Unterhaus halten, 241 Sitze weniger als bisher. Auch in Schottland ging Labour als Wahlsieger hervor, nachdem die Scottish National Party (SNP) – durch den internen Parteispendenskandal geschwächt – deutlich an Rückhalt verloren hatte.

Doch Starmer kann es sich nicht leisten, seinen Triumph des historischen Wahlsieges lange auszukosten. Am Freitagnachmittag wird er von König Charles III. offiziell zum Premierminister berufen. Am Wochenende wird er sein Kabinett zusammenstellen und in Downing Street einziehen. Dann beginnt auch gleich der eigentliche Kraftakt: Er muss den politischen und wirtschaftlichen Schaden reparieren, den die Torys nach 14 Jahren chaotischer Regierungsführung hinterlassen haben.

Die Briten haben ihr großes Experiment mit einer Regierung, die alles verspricht, aber nichts hält, beendet. Sie haben die Populisten aus dem Amt gejagt und die nächstbeste Alternative gewählt. Aber was nun?

Die erste Aufgabe von Starmer: der Öffentlichkeit wieder das Vertrauen in die Politik zurückzugeben. „Es reicht nicht, den Populismus und Nationalismus einfach abzulehnen“, erklärte Starmer der Tageszeitung Guardian. Man müsse verstehen, warum diese sich derzeit in den USA und Europa ausbreiteten. „Es passiert, wenn die Gesellschaft das Gefühl hat, dass Politik die Probleme nicht mehr lösen kann, dass man Politikern nicht mehr trauen kann.“ Labour wolle der Öffentlichkeit „dienen“, sagt Starmer. Ihre Interessen hätten Vorrang, nicht die Interessen der eigenen Partei. Das hört sich gut an. Aber was heißt das konkret?

„Das ist nichts für den Stammtisch“

Keir Starmer will zunächst bei der Moral der Partei, bei seinen Abgeordneten und seinem Kabinett ansetzen. Der ehemalige Anwalt und Chef der Generalstaatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service) droht, jedes Regierungsmitglied und jedes Fraktionsmitglied rauszuwerfen, das sich danebenbenimmt. Korruption, die Coronapartys, das Nichteinhalten von Regeln und Vetternwirtschaft waren ein Grund, warum sich so viele Wähler und Wählerinnen von den Torys abgewendet haben. Starmer pocht zudem darauf, die Rechtsstaatlichkeit, die Einhaltung internationaler Verträge und die demokratische Gewaltenteilung zu achten. Das Gerede, das Vereinigte Königreich könne den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verlassen oder werde irreguläre Flüchtlinge nach Kigali ausfliegen, ist vom Tisch. 

Der neue Premier will zudem eine langfristig stabile Regierungspolitik. „Auf die Taten kommt es an, nicht auf die Worte“, sagt er. Er will keine neuen Ministerien schaffen, weiß aber, wie er die interne Maschinerie der staatlichen Institutionen effizienter nutzt. Als ehemaliger Chef der Staatsanwaltschaft von England und Wales hat er mehr Erfahrung mit dem Apparat der öffentlichen Institutionen, als es sonst neue Premierminister haben.

Nun zur konkreten Politik: Anders als die Konservativen mit ihrem Brexit und Steuerexperimenten will Starmer keine ideologischen Experimente auftischen. Im Gegenteil: Er hat die Labourpartei vom sozialistischen Flügel in die politische Mitte zurückgeholt, will also lieber langweilige Tagespolitik machen. „Das ist nichts für den Stammtisch“, hat er gesagt.

Wichtigstes Ziel: das Wirtschaftswachstum. Das hat sich nach der Covid-Krise nicht annähernd so gut erholt wie in anderen Ländern. Der Lebensstandard wird erst im kommenden Jahr wieder auf das Niveau von vor der Pandemie gestiegen sein. Auch die Produktivität hängt weiterhin anderen Ländern hinterher, vor allem in den Industriestädten im Norden Englands.

Die Wirtschaft muss wachsen – sonst kann Labour die Versprechen nicht einhalten

Starmer wird mit Rachel Reeves eine Volkswirtin als – erste weibliche – Schatzkanzlerin einsetzen. Sie drängt auf Fiskaldisziplin. Starmer und sie haben versichert, dass sie die drei großen Steuern, die Einkommensteuer, die Sozialabgaben und die Mehrwertsteuer, nicht anheben werden und keine neuen Sparmaßnahmen verkünden wollen. Aber das kann Reeves nur einhalten, wenn die Wirtschaft stärker wächst und alles nach Plan läuft.

Helfen kann ihr dabei, dass die Inflation wieder auf zwei Prozent gefallen ist und die Notenbank in Kürze beginnt, die Zinsen zu senken. Das wiederum hilft der Wirtschaft – und dem Staat, der die derzeit hohen variablen Zinsen auf die Staatsschulden bezahlen muss. Es mag auch helfen, dass mit Labour wieder eine unternehmerfreundliche Regierung die Geschäfte führt, sodass Unternehmen wieder mehr im Land investieren werden. Denn nur durch Investitionen lässt sich die Produktivität der Wirtschaft erhöhen, nur so gibt es Wachstum und höhere Steuereinnahmen. Das wiederum gibt der Regierung den fiskalpolitischen Spielraum, den sie braucht, wenn sie die Dinge im öffentlichen Leben bessern will.

Genau darauf warten viele: Labour will investieren und umorganisieren, damit im Gesundheitswesen die Warteliste der Patienten auf Operationen und Arztbehandlungen kürzer wird, damit die Krankenwagen wieder schneller losfahren, damit die Bürger wieder Arzttermine bekommen. Die Regierung will auch wieder mit den streikenden Ärzten verhandeln. Labour müsste eigentlich in das Gerichtssystem und den Strafvollzug investieren, um dort die unsäglichen Verhältnisse zu bessern. Außerdem will die neue Regierung wieder an den Zielen der Netto-Null-Emissionspolitik bis 2030 festhalten.