Wachsender Druck aufwärts Israel: „Die Staatsräson befindet sich in einem Rückzugsgefecht“
In der EU werden Sanktionen gegen Israel diskutiert. Doch Deutschland blockiert. Ein Gespräch mit Matthias Goldmann, Professor für Internationales Recht, Völkerrecht und Finanzrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden, über die Auswirkungen möglicher Sanktionen und nach der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern hierzulande.
der Freitag: Die EU-Kommission hat Mitte September ein Sanktionspaket vorgestellt, um den Druck auf die israelische Regierung wegen des militärischen Vorgehens im Gazastreifen zu erhöhen. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sprach von einem „robusten Paket“. Kernpunkt ist eine Teilaussetzung des Assoziierungsabkommens mit Israel. Was würde das konkret bedeuten?
Matthias Goldmann: Dieses Abkommen enthält zahlreiche Handelspräferenzen. Dazu gehören Zollsenkungen oder die Aufnahme bestimmter Produktkategorien in den Freihandel. Israelische Produzenten würden durch eine Aussetzung einen Teil dieser Vorteile verlieren. Das bedeutet nicht, dass der Handel stoppt, sondern dass wieder die normalen Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gelten. Israelische Waren würden also teurer, das Handelsvolumen könnte sinken.
Welche politischen Folgen hätte das?
Vielleicht hat es indirekte Folgen, ja. Die israelische Wirtschaft steht ohnehin unter Druck – der Krieg kostet viel Geld. Die EU-Sanktionen würden diese Lage verschlechtern. Solche Sanktionen sind ein Druck auf die Gesellschaft insgesamt, verbunden mit der Hoffnung, dass diese wiederum Druck auf die Regierung ausübt. In dieselbe Richtung stoßen Vorschläge, gegen bestimmte israelische Regierungsmitglieder individuelle Sanktionen zu erlassen. Aber im Moment scheint es mir so, dass der innenpolitische Gewinn an einer Fortsetzung der Besatzung, sowohl in Gaza als auch im Westjordanland, für Netanjahu einfach unglaublich groß ist. Und die Kosten, die er durch die Aussetzung des Assoziierungsabkommens hätte, die wiegen nicht die Kosten auf, die er hätte, wenn er seine Politik ändern würde.
Lassen sich Parallelen zu den Sanktionen gegen Russland ziehen?
Nein. Russland ist eine andere Kategorie: Ganze Produktgruppen werden boykottiert, und jetzt steht ja noch der letzte Schritt an, dass man wirklich überhaupt nichts mehr kauft von Russland – also auch kein Öl und Gas. Schon bei Russland war jedoch die Wirkung der Sanktionen begrenzt. Es gab ein BIP-Schrumpfen, aber Russland fand neue Abnehmer. Märkte passen sich langfristig an. Für Israel sind die Maßnahmen ungleich geringer. Schätzungen gehen davon aus, dass Importe aus Israel sich um etwa 220 Millionen Euro verteuern würden. Das wäre kein Handelsstopp.
Noch ist die Aussetzung nur angekündigt. Wie wahrscheinlich ist die Umsetzung – auch mit Blick auf die Rolle Deutschlands?
Ich halte es für wahrscheinlich. Die EU hat wenig Möglichkeiten, anderweitig Druck auszuüben. Und Israel lässt sich von Ankündigungen allein nicht beeindrucken, daher muss die EU irgendwann handeln. Deutschland wird zunehmend unter Druck geraten, auch weil immer mehr EU-Staaten Palästina anerkennen. Und man sollte sich schon fragen: Was will man der EU zumuten mit dieser Blockade? Zumal die deutsche Regierung keinen Einfluss auf die israelische Regierung hat.
Ist Deutschlands Widerstand gegen Sanktionen konform mit dem Völkerrecht?
Völkerrechtlich besteht keine Pflicht, Sanktionen zu verhängen. Es gibt aber die Pflicht, dass durch Handelsbeziehungen keine Völkerrechtsverletzungen, zum Beispiel Kriegsverbrechen oder auch die Fortsetzung der illegalen Besatzung, gefördert werden. Es ist im Einzelnen sehr schwer, da eine Grenze zu ziehen: Was trägt alles zur Besatzung bei? Nur Handel mit israelischen Siedlungen oder auch kulturelle und wissenschaftliche Kontakte? Wie sieht es aus mit Kontakten zu Firmen und Institutionen in Israel, die an der Besatzung mitwirken?
Placeholder image-1
Inwiefern hat sich das Verhältnis Deutschlands zum Völkerrecht mit dem Krieg in Gaza verändert?
Wir können sehen, dass Deutschland das Völkerrecht vielleicht doch nicht so lieb ist, wie uns das in der Vergangenheit weisgemacht wurde.
Wie meinen Sie das?
Das Völkerrecht zu unterstützen, war recht billig für Deutschland. Das forderte nur Gratismut. Nach 1990 war das Völkerrecht so konstruiert, dass es im Grunde westlichen Interessen diente. Schwieriger wurde das Verhältnis zum Völkerrecht erstmals im Kosovo-Krieg, wo man effektiv das Gewaltverbot brach, sich aber gleichzeitig als Verteidiger der Menschenrechte inszenieren konnte, da ein Genozid drohte. Heute funktioniert diese Logik nicht mehr. Der Krieg in Gaza macht die Doppelstandards, die es vielleicht immer schon gab, offensichtlich.
Früher standen die „Täter“ auf der anderen Seite, jetzt auf der eigenen?
So kann man es sagen. Zudem funktionierte der UN-Sicherheitsrat zeitweise im westlichen Interesse – das ist seit der Intervention in Libyen 2014 vorbei. Machtverschiebungen machen deutlich, dass die westliche Position nicht automatisch die moralisch gute ist.
Welche Konsequenzen hat das?
Außenpolitisch stellt sich für Deutschland und die EU die Frage: Hält man an einer regelbasierten Ordnung fest oder setzt man auf eine machtbasierte internationale Ordnung wie die USA? Letztere ist gut für mächtige Staaten oder für nicht so mächtige Staaten, die sich in deren Machtsphäre tummeln, wie das vielleicht im Kalten Krieg auch für Deutschland der Fall war.
Jetzt nicht mehr?
Die EU und Deutschland müssen sich fragen: Möchte man sich wirklich in das Camp der USA begeben, wo Trump sich gerade in der Macht einrichtet und die wahrscheinlich auch nicht mehr so schnell hergeben wird? Das ist keine attraktive Option. Auf der anderen Seite, sich mit China oder Russland eng zu assoziieren, ist absolut indiskutabel. Deshalb bleibt eigentlich doch eher die Alternative, dass man versucht, eine regelbasierte Ordnung zu stärken. Das würde nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch Schaden abwenden.
Können Sie das erläutern?
Verstöße gegen das Völkerrecht schlagen langfristig auf die Verfassung und die Grundrechte durch. Das sehen wir bereits im Gaza-Konflikt: Demonstrationsrecht, Kunstfreiheit und Wissenschaftsfreiheit geraten in Deutschland unter Druck. Kritische Personen werden ausgeladen, Projekte nicht gefördert, und die Polizei geht brutal gegen Demonstrierende vor. Hannah Arendt beschrieb schon, wie koloniale Brutalität auf die Innenpolitik durchschlug. Das gilt auch für Deutschland heute.
Das heißt, Deutschland schadet sich selbst, wenn es die Staatsräson über das Völkerrecht stellt?
Genau. Für einen Mittelstaat ist eine regelbasierte Ordnung strategisch klüger – nicht nur moralisch. Dabei geht es nicht nur um die Außenpolitik, sondern auch um den Schutz der eigenen Verfassung.
Im Mai sah es kurz so aus, als würde Deutschland seine Position zu Israel ändern. Kanzler Friedrich Merz sagte damals, er verstehe „offen gestanden nicht mehr, mit welchem Ziel“ das Land in Gaza vorgehe. Welche rechtlichen Folgen hat so eine Erkenntnis?
Wenn man nicht mehr versteht, was Israel tut, dann könnte es sein, dass hier das Selbstverteidigungsrecht seine Grenze erreicht hat. Und wenn das Selbstverteidigungsrecht überschritten wird, darf man die Kriegsführung nicht mehr unterstützen. Waffenlieferungen werden dann problematisch.
Deutschland hat einen teilweisen Stopp der Waffenlieferungen angekündigt: Künftig sollen keine Waffen geliefert werden, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Was heißt das praktisch?
Das ist schwer zu überprüfen. Man weiß aus der Vergangenheit, was in Gaza eingesetzt wurde – Panzer, Munition, Panzerfäuste, bei denen Deutschland teils Komponenten liefert. Aber bei vielen anderen Gütern ist das unklar. Israelische U-Boote etwa haben bislang nicht in Gaza operiert, könnten aber zu Blockaden beitragen oder Raketen abfeuern, wie das schon in Syrien der Fall war. Ähnlich ist es mit Dual-Use-Gütern: Motoren, Lastwagen oder Munition können zivil genutzt werden, aber auch im Krieg. Es lässt sich nicht garantieren, dass solche Lieferungen nicht doch in Gaza oder in anderen Konflikten eingesetzt werden – in der Westbank, im Libanon, in Syrien oder sogar gegenüber Iran.
Genügt so eine Ankündigung, damit Deutschland völkerrechtlich aus dem Schneider ist?
Nein. Man muss schon die verfügbaren Informationen nutzen. Für bereits erfolgte Kriegsverbrechen könnte Deutschland haften, wenn die Regierung das Risiko absehen konnte. Darüber hinaus stellt sich die Frage individueller Verantwortung. Es gibt ja bereits Anzeigen in Deutschland gegen das Völkerstrafrecht.
Das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat gemeinsam mit den palästinensischen Menschenrechtsorganisationen bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige eingereicht, gegen einen deutsch-israelischen Soldaten, der im Verdacht steht, an gezielten Tötungen unbewaffneter palästinensischer Zivilist:innen in Gaza beteiligt gewesen zu sein. Hat die Anzeige Aussicht auf Erfolg?
Ja, falls er in Deutschland festgenommen wird. Da die Person die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, könnte sie in Deutschland vor Gericht gestellt werden. Anders verhält es sich, wenn kein direkter Bezug zu Deutschland besteht: Dann stellt sich die Frage, ob Israel Ermittlungen durchführt und gegebenenfalls eine Überstellung zulässt. Es ist also eigentlich notwendig, dass Ermittlungen in Deutschland aufgenommen werden – ob dies zu einer Verurteilung führt, ist offen. In der Vergangenheit sind betroffene Personen sehr schnell ausgereist, bevor etwas passieren konnte.
Könnte die Politik die Ermittlungen etwas blockieren?
Nein. Die Bundesanwaltschaft entscheidet nach dem Legalitätsprinzip. Rechtlich gebundene Entscheidungen garantieren aber in politisch aufgeladenen Fällen noch keine fairen Ermittlungen – wie schon im Kundus-Fall.
Was ist damals passiert?
2009 ließ ein deutscher Oberst in Afghanistan Tanklaster bombardieren, mehr als hundert Zivilisten starben. Die Bundesanwaltschaft entschied, das Strafverfahren wegen möglicher Kriegsverbrechen einzustellen. Juristisch war das zweifelhaft, da die Ermittlungen viele Defizite aufwiesen.
Netanjahu könnte also in Deutschland sehr wohl verhaftet werden, obwohl Kanzler Merz angekündigt hat, ihn nicht an den ICC (Internationalen Strafgerichtshof) auszuliefern?
Ja. Sobald er deutschen Boden betritt, müsste ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vollstreckt werden. Deutschland hat das Römische Statut so ratifiziert, dass diese Haftbefehle hier unmittelbar gelten. Also wenn das nicht ausgeführt würde, dann nur, weil jemand seiner rechtlichen Pflicht nicht nachkommt.
Deutschland blockiert weiterhin mögliche Sanktionen gegen Israel und kritisiert auch die Anerkennung Palästinas als Staat durch andere EU-Mitglieder scharf. Ist der Konflikt zwischen Staatsräson und Völkerrecht hierzulande schon entschieden?
Nein. Die Staatsräson befindet sich eher in einem Rückzugsgefecht. Ihre Argumente werden dünner. Es fehlen überzeugende Argumente, warum Deutschland Palästina nicht anerkennen sollte, während gleichzeitig Verhandlungen, auf die die Palästinenser ein Recht haben, nicht stattfinden. Ich denke, dass gerade über die EU-Ebene eine neue Dynamik ins Spiel kommt: Die steht vor der Frage, wie gehen wir mit autoritären Kräften um, im Innen wie im Außen? Die EU kann nicht intern Rechtsstaatlichkeit einfordern, zum Beispiel gegenüber Ungarn, und gleichzeitig außenpolitisch völkerrechtswidriges Handeln fördern. Die EU lässt sich nur zusammenhalten, wenn man sich hier nicht selbst in den Rücken fällt, sprich: wenn man eine regelbasierte Ordnung aktiv anstrebt, im Innern wie im Äußern. Und ich könnte mir vorstellen, irgendwann wird Deutschland erkennen: Wenn wir da nicht mitziehen, dann riskieren wir die EU.