Von welcher Werkbank in den Bundestag? Der VW-Arbeiter Cem Ince tritt z. Hd. die Linke an
Eine unscheinbare Straßenkreuzung im niedersächsischen Salzgitter. Cem Ince sitzt hinter dem Lenkrad und wartet darauf, dass die Ampel auf Grün springt. Er trägt Boxerhaarschnitt und eine rote IG-Metall-Jacke, deutet mit seinem Zeigefinger auf ein kleines weißes Schild: Kreuzung der Metallerinnen und Metaller. Ein halbes Dutzend Mal habe er hier mit Tausenden gestanden – Trillerpfeife im Mund, IG-Metall-Fahne in der Hand. Hier sammeln sich die Beschäftigten, wenn gemeinsam gestreikt wird, denn die Kreuzung liegt genau zwischen den Standorten des Stahlkonzerns Salzgitter AG, des Zughersteller Alstom, von MAN und Volkswagen. Die Kreuzung sei ein wenig wie Salzgitter, sagt Ince, „optisch nicht besonders schön, aber die Menschen hier sind schön kämpferisch“.
Opa, Papa, Sohn: Alle Gewerkschafter
Cem Ince ist 31 Jahre alt. Sein Großvater kam Ende der 1960er aus dem kurdisch geprägten Ostanatolien als sogenannter Gastarbeiter nach Salzgitter und schuftete am Hochofen der Salzgitter AG. Auch Inces Vater machte dort seine Lehre und arbeitete zunächst bei der Salzgitter AG, bevor er zu Volkswagen wechselte. Bei VW begann auch Cem Inces Berufsleben: Er absolvierte eine Lehre zum Elektroniker für Automatisierungstechnik, arbeitete in der Montage und qualifizierte sich später VW-intern zum Softwareentwickler weiter.
Die Familientradition umfasst nicht nur die Arbeit, sondern auch das Engagement für Arbeitnehmerinteressen. Bereits der Großvater war Vertrauensmann der IG Metall, der Vater sitzt im VW-Betriebsrat, und Cem Ince folgte diesem Weg: Er trat direkt nach seinem Einstieg bei VW der IG Metall bei, wurde Vertrauensmann sowie Jugend- und Auszubildendenvertreter im Betrieb. Die Gewerkschaft ist für Ince mehr als ein Mittel zum Zweck – sie ist ein zentraler Ort für politisches Engagement, die Vertretung gemeinsamer Interessen und ein sozialer Ort.
Die Region zwischen Hannover, Wolfsburg und dem Harz im Südosten Niedersachsens zählt zu den großen industriellen Zentren Deutschlands. Hier ist die SPD traditionell stark, doch insbesondere in Salzgitter gibt es auch eine verhältnismäßig aktive Linke.
Hohe Margen oder gute Autos: Die Transformationsprobleme der deutschen Autoindustrie
Ince fährt die Berliner Straße in Lebenstedt, dem größten Stadtteil Salzgitters, entlang. Die Straße wird wegen der vielen türkischen Restaurants, Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte „Klein-Istanbul“ genannt. „Ich kenne hier jede Ecke, fast jeden Menschen“, sagt Ince.
Er biegt ab und steuert ein Dorf in der Nähe von Lebenstedt an, das offiziell zu den 31 Stadtteilen Salzgitters gehört. Er steigt aus seinem schwarzen VW e-up, einem E-Kleinwagen, der als Sinnbild für ein Problem der deutschen Transformation der Automobilbranche herhalten kann: Das Modell war sehr beliebt, teilweise gab es Lieferzeiten von mehr als einem Jahr, doch VW hat die Produktion eingestellt – offiziell wegen neuer Cybersicherheitsregeln. Vermutet wird jedoch, dass die Entscheidung auch mit den geringeren Gewinnmargen bei Kleinwagen zusammenhängt. „Das ist das Problem“, sagt Ince. „Die wollen hohe Margen, wir wollen gute Autos.“
Im Regen läuft er zu einem Haus der Freiwilligen Feuerwehr. Im holzvertäfelten Saal sitzen etwa 20 stimmberechtigte Parteimitglieder in einer U-förmigen Tischreihe. Hier zeigt sich, dass die Linke in manchen Regionen noch immer mehr ist als eine Partei akademischer Großstädter, zu der sie linke wie rechte Kritiker gerne erklären. Es geht im Saal der Freiwilligen Feuerwehr vor allem um die Arbeitsbedingungen in den umliegenden Industriebetrieben. Ince will eine linke Industriepolitik vorantreiben, will, dass seine Kolleginnen und Kollegen die notwendige Transformation in der Autoindustrie mitgehen, aber auch mitgenommen werden.
Einstimmig zum Direktkandidaten für den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel gewählt
An diesem Tag wird er einstimmig zum Direktkandidaten für den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel gewählt. Doch Ince hat größere Ziele: Er bewirbt sich gleichzeitig um Platz zwei auf der Landesliste der niedersächsischen Linken für den Bundestag. Bei der letzten Wahl, als die Linke trotz knapp verfehlter Fünfprozenthürde 4,9 Prozent holte, zogen drei Kandidierende über die Liste in den Bundestag ein. Sollte dies erneut gelingen, hat Ince gute Chancen, über Platz zwei nach Berlin zu kommen – selbst bei einem schwächeren Wahlergebnis.
Unterstützung erhält er von Victor Perli, 2017 und 2021 Direktkandidat im Wahlkreis. Er zog über die Landesliste in den Bundestag ein, hört nun aber auf. „Cem ist als VW-Arbeiter ein authentischer Kandidat, der auch Wähler anzieht, die nicht schon immer die Linke gewählt haben“, sagt Perli. Er hoffe, seine Partei sei klug genug, dieses Angebot zu nutzen.
Ince bringt ideale Voraussetzungen mit: Er ist in der Region verwurzelt, in der Gewerkschaft und den Betrieben aktiv und hat einen klar linken Kompass. Sein Ziel ist es, die friedenspolitische Position der Partei zu stärken und die Linke wieder als glaubwürdige Alternative für seine Kolleginnen und Kollegen zu etablieren – gerade in Zeiten der VW-Krise. „Die Unzufriedenheit wächst, und manche glauben, die AfD sei die einzige Alternative. Doch die stehen für Rassismus und setzen sich nicht für die Interessen der Beschäftigten ein“, sagt Ince. Sein Engagement für bessere Arbeitsbedingungen sei untrennbar mit einer antifaschistischen Haltung verbunden, die er auch einem politischen Elternhaus verdankt, wo am Küchentisch immer wieder über die Lage der Arbeiterklasse, aber auch rassistische Ausgrenzung diskutiert wurde.
Ince engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad
Politisch selbst aktiv war Ince lange vor allem in der Gewerkschaft. Er engagiert sich aber auch in der Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad, die gegen die Atommüllendlagerung im stillgelegten Eisenerzbergwerk kämpft. Berührungspunkte mit der Linken gab es im politisch überschaubaren Salzgitter schon lange, bis er vom damaligen Linken-Chef in Salzgitter, Rainer Nagel, 2019 angesprochen wurde, ob er sich einen Parteieintritt vorstellen könne. Er konnte und wurde dann im Oktober 2021 sogar Nagels Nachfolger.
Ob sein Weg ihn nach Berlin führt, entscheidet sich am 21. Dezember, wenn die Landesliste für die Bundestagswahl gewählt wird. Favorit für Platz zwei dürfte Christoph Podstawa sein, der als Landesgeschäftsführer im Landesverband aktuell noch bekannter ist als Ince. Auch Pascal Heisterüber, Verdi-Gewerkschaftssekretär aus Göttingen, werden Chancen eingeräumt. Inces Kandidatur ist aber alles andere als aussichtslos. Und bei Listenwahlen kommt es oft zu Überraschungen. Sollte er es in die Stichwahl schaffen, ist alles möglich. Von der Werkbank in den Bundestag. Der Linken würde es jedenfalls gut zu Gesicht stehen.