Von wegen Kondomersatz: Wie Zyklus-Apps viele Frauen ungewollt schwanger zeugen
Millionen von Frauen haben Erfahrung mit Smartphone-Apps zur Überwachung ihrer Periode. Viele der Zyklus-Apps zeigen den Frauen auch ihr „Fruchtbarkeitsfenster“ an: die Tage, an denen sie am ehesten und am wenigsten wahrscheinlich schwanger werden können. Doch die Qualität der Daten, die für diese Vorhersagen verwendet werden, variiert enorm und ist oft begrenzt und unzuverlässig, warnen Experten.
Die meisten Apps verwenden nur die Daten der vergangenen Perioden und Standard-Zyklusinformationen der einzelnen Userin, um vorherzusagen, wann die nächste Periode kommen wird – und damit auch den Zeitpunkt des Eisprungs und wann die Fruchtbarkeit am höchsten ist. Eine aktuelle Untersuchung des britischen Observer von Apps in den Apple- und Android-Stores ergab, dass auch einige, die nicht als medizinische Geräte registriert sind, als „Geburtenkontrolle“ bezeichnet werden und behaupten, „so wirksam wie Kondome“ zu sein.
Eine App etwa bewirbt sich selbst als „Eisprung-Tracker“ und behauptet, sie basiere auf „wissenschaftlicher Forschung“, die „dabei hilft, die fruchtbaren Tage des Monats zu bestimmen, damit Sie entweder schwanger werden oder eine Schwangerschaft vermeiden können“. Die Vorhersagen beruhen jedoch ausschließlich auf den Angaben, die die Nutzerin zu Datum und Dauer ihrer Periode macht. Eine andere bezeichnet sich selbst als „Fruchtbarkeits- und Eisprung-App“ und verspricht „genaue“ tägliche Vorhersagen über eine hohe oder niedrige Chance, schwanger zu werden.
2023 hatten 70 Prozent der ungewollt Schwangeren nicht verhütet
Auf der Website findet sich ein Haftungsausschluss: Die App sei „nur zur Information“. Gleichzeitig verspricht die Beschreibung „keine Überraschungen mehr, keine Sorgen und kein Gefühl der Ungewissheit“ und bietet ihre Dienste als „zuverlässigen Gesundheitspartner“an. Dabei basiert sie auf der „Standard Days Method“ (SDM), die zu den am wenigsten wirksamen Verhütungsmethoden gehört.
Andere Apps versprechen, „Ihre Fruchtbarkeitsziele zu managen“, „eine Schwangerschaft auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben“ und „jeden Tag Ihre Chancen auf eine Empfängnis zu überprüfen“. Eine weitere App behauptet, „Ihre Schwangerschaftschancen vorhersagen“ zu können, damit sie „die Kontrolle über ihr Sexualleben übernehmen“ und sich „im Bett wohlfühlen“ können. Manche dieser Apps wurden millionenfach heruntergeladen. Viele unterstehen keinerlei Regulierungen.
Die Apps werden inmitten von Sorge über den ansteigenden Anteil von Frauen beworben, die sich von hormoneller Verhütung abwenden und „natürliche Verhütungsmittel“ nutzen. Anfang Januar veröffentliche die britische Medizinzeitschrift BMJ eine Studie: Dort gaben 2,5 Prozent der Frauen, die im Jahr 2023 in England und Wales einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten, an, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft natürliche Methoden, wie etwa die Überwachung der Fruchtbarkeit, angewandt hätten – im Vergleich zu 0,4 Prozent im Jahr 2018. Die Zahl der befragten ungewollt Schwangeren, die gar nicht verhütet hatten, stieg 2023 auf 70 Prozent, während es 2018 nur 56 Prozent waren.
Auch wenn die Studie keinen direkten Kausalzusammenhang aufzeigte, schlossen die Forscher, dass der geringe, aber signifikante Anstieg der Zahl der Frauen, die „natürliche“ Methoden anwenden, weiter untersucht werden müsse. Die Zahlen ließen Bedenken hinsichtlich der Genauigkeit von Apps zur Vorhersage von Fruchtbarkeitsfenstern aufkommen.
Studie: 73 Prozent der Apps konnten den Eisprung nicht korrekt voraussagen
Die Zyklus-Apps basieren zumeist auf traditionellen Methoden des Fruchtbarkeitsbewusstseins. Diese werden schon seit Jahrhunderten benutzt, um die Chance auf Empfängnis einzuschätzen, können aber wegen menschlicher Fehler und individueller körperlicher Schwankungen riskant sein. Der britische Gesundheitsdienst NHS sagt voraus, dass etwa 24 von 100 Frauen pro Jahr schwanger werden, wenn sie die „natürliche Familienplanung“ nicht ganz korrekt durchführen.
Manche Apps erfordern auch die tägliche Eingabe von Daten über die Körpertemperatur oder den Zervixschleim. Das kann die Genauigkeit erhöhen. Zwischen zwei und 23 von hundert Frauen, die natürlich verhüten, werden jedes Jahr schwanger, je nachdem, welche Methode sie benutzen, sagen die Forscher.
Studien zu Fruchtbarkeits-Apps in der Vergangenheit kamen allgemein zu keinem guten Ergebnis. Eine Untersuchung von 73 Tracking-Apps im Jahr 2017 ergab, dass keine der Apps den Eisprung genau voraussagen konnte. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2016 befand, dass nur sechs von 40 Apps das Fruchtbarkeitsfenster der Nutzerin perfekt voraussagten.
Dennoch erhalten Frauen häufig Schwarz-Weiß-Voraussagen darüber, ob sie an einem bestimmten Tag „fruchtbar“ oder „nicht fruchtbar“ sind – was sie dazu nutzen könnten, um ungeschützten Sex zu haben. Davor warnt die Präsidentin der Faculty of Sexual and Reproductive Healthcare (FSRH) Janet Barter: „Zu wissen, wann man seine Periode hat, sagt einem nicht unbedingt, wann der Eisprung erfolgt – es ist also mehr nötig, wenn es effektiv sein soll.“
In Großbritannien hat nur eine einzige App, die auf die Überwachung der Körpertemperatur setzt, um Vorhersagen zu treffen, die Erlaubnis erhalten, als Mittel der Geburtenkontrolle vermarktet zu werden. Sie heißt „Natural Cycles“ und wird von Influencern auf TikTok und Instagram viel beworben. Bei richtiger Anwendung verspricht sie eine Wirksamkeitsrate von 93 Prozent. Aber sogar Natural Cycles wird von vielen Experten als riskant eingestuft.
Der Grund: Die App beruht darauf, dass die Nutzerinnen ihre Daten regelmäßig und akkurat eingeben sowie an den fruchtbaren Tagen keinen Sex haben oder ein anderes Verhütungsmittel anwenden. Während die App in den USA für den Einsatz als Verhütungsmittel genehmigt wurde, ist das in Großbritannien nicht der Fall. Ein Institut kam 2021 zum Ergebnis, dass es nicht genügend Beweise für die Wirksamkeit der App gibt, um sie für die Nutzung im NHS zu genehmigen.
Im Juli äußerte auch eine kanadische Medizingesellschaft Bedenken, dass die Wirksamkeit der App überbewertet werden könnte. Sie forderte Nutzerinnen warnend auf, „ungeschützten Geschlechtsverkehr zu vermeiden, insbesondere während der ersten Zyklen, in denen Daten gesammelt werden.“ Natural Cycles wies die Kritik zurück.
Catriona McMillan: Der „Fruchtbarkeits-App-Markt ist ein wilder Westen“
Die typische Nutzung der App sei „vergleichbar mit anderen Verhütungsmethoden, sowohl hormonellen als auch nicht hormonellen“, sagte ein Unternehmenssprecher. „Auch wenn im Bereich der Empfängnisverhütung noch kein direkter Vergleich durchgeführt wurde, ist Natural Cycles in dieselbe Wirksamkeitskategorie eingestuft wie etwa die Pille.“ Die Dozentin für Medizinrecht und Ethik an der Universität Edinburgh, Catriona McMillan, meint hingegen, der Fruchtbarkeits-App-Markt sei derzeit ein „wilder Westen“.
Laut McMillan gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass jüngere Frauen „die Pille, die Hormonspirale und andere Spiralen absetzen“ und stattdessen auf Apps zur Überwachung der Periode zurückgreifen. Das geschieht zum Teil aus Sorge vor Nebenwirkungen, wegen Problemen beim Zugang zu medizinischer Versorgung oder Fehlinformationen in den sozialen Medien. „Weil die Apps keine medizinischen Geräte sind, können die Daten für ihre Berechnungen von einer, zwei oder zehn Leuten stammen. Sie müssen nicht evidenzbasiert sein“, moniert die Uni-Dozentin. „Die Fruchtbarkeitsfenster werden daher oft falsch berechnet. Und wenn junge Frauen sich darauf verlassen, können sie sehr leicht schwanger werden, weil die Algorithmen nicht immer funktionieren.“
McMillan fordert daher, dass alle Apps, die Fruchtbarkeitsvorhersagen anbieten, als Medizinprodukte registriert werden müssen. Zumindest, meint sie, sollten die Apps mit einem Hinweis versehen sein, dass sie nicht zur Empfängnisverhütung verwendet werden sollten. In der Realität reiche das aber möglicherweise nicht aus: „Wie oft lesen Sie die Beschreibung einer App oder gehen auf die Website?“
In einer Umfrage des British Pregnancy Advisory Service (BPAS) aus dem Jahr 2024 gab fast die Hälfte der Frauen an, beim Zugang zu Verhütungsmitteln auf Hürden zu stoßen. Genannt wurden lange Wartezeiten und Schwierigkeiten, einen Termin zu bekommen, aber auch die Kosten. Eine deutliche Mehrheit von 84 Prozent gab an, ihre Verhütungsmethode mindestens einmal gewechselt zu haben. Aktuell war eine von sieben Frauen mit den Nebenwirkungen ihrer aktuellen Methode unzufrieden. Für Barter heißt das: „Wir sollten uns alle mehr Gedanken darüber machen, Verhütungsmethoden zu finden, mit denen sich Frauen wohlfühlen, anstatt zu versuchen, sie zu überzeugen, sich mit dem wohlzufühlen, was es gibt.“