Volkswirtschaftler Felbermayr: „EU sollte Orbán zu Verhandlungen mit Trump schicken“

Herr Felbermayr, Sie sind ein Verfechter des Freihandels. Jetzt veröffentlichen Sie ein Buch mit dem Titel: „Der Freihandel hat fertig“. Ist die Lage so schlimm?

Der Untertitel heißt „Wie die neue Weltunordnung unseren Wohlstand gefährdet“. Daran sieht man, wohin die Reise geht. Der Freihandel hat fertig, als Konzept, als Ideologie, als politische Überzeugung. Das ist leider so.

Woran machen Sie das fest?

An vielen Dingen wie der Unfähigkeit der Welthandelsorganisation, ihren Job vernünftig zu machen, an der ­wachsenden Zahl protektionistischer, diskriminierender Handelsbeschrän­kun­gen, an der Tatsache, dass keine Freihandelsabkommen mehr geschlossen werden. Europa hat die Chance, das mit den USA unter Obama zu tun, vertan.

Aber jetzt klappt’s mit den Mercosur-Staaten in Südamerika?

Das Abkommen ist paraphiert, aber das heißt nichts. Aktuell sieht es so aus, als ob in der EU dagegen eine Sperrminorität zustande käme. Das zeigt, wie wenig Konjunktur die Idee vom Freihandel hat, auf Basis von Verträgen zu kooperieren, mit der Maßgabe, sich gegenseitig Vorteile zu verschaffen.

Sie schreiben: „Wir brauchen Vorbereitungen, Handelskriege offensiv zu führen.“ Das klingt mehr nach dem Kriegsstrategen Carl von Clausewitz als nach David Ricardo, dem Gottvater der Handelsökonomen?

Schauen Sie sich in der Welt um: der Überfall Russlands auf die Ukraine. An vielen Stellen sehen wir das Aufblühen eines machtpolitisch motivierten Protektionismus, in China und in Amerika. Es gibt handfeste Gründe, warum sich die Handelspolitik wehrhafter aufstellen muss. Dazu können wir als Ökonomen einen Beitrag leisten. Schon Adam Smith hatte die Sicherheit des Landes über die wirtschaftliche Freiheit gestellt.

Den Terminus „wehrhafte Handelspolitik“ hat man von Ökonomen bisher eher nicht gehört. Waren die politisch naiv?

Das ist so, und ich will mich da nicht ausnehmen. Wir haben mit falschen Modellen und unzureichenden Annahmen gerechnet. Dass zum Beispiel ein Land gezielt Wohlfahrtseinbußen hinnimmt, weil der Gegner womöglich einen noch größeren Schaden erleidet, der Ansatz ist für einen Ökonomen komplett unsinnig. Dennoch sehen wir solche Verhaltensweisen immer öfter.

Deshalb liefern Sie jetzt Rezepte für den Handelskrieg?

Wir zeigen Möglichkeiten, wie man sich erfolgreich gegen jene wehren kann, die den Freihandel bekämpfen. Das Ziel muss in dieser Lage sein, möglichst viel Freihandel zu retten. Denn dessen wohlfahrtssteigender Wert steht ja außer Frage. Man darf ihn nur nicht so absolut setzen, wie wir das lange getan haben.

Das bedeutet konkret?

Zunächst uns auf unsere eigenen wirtschaftlichen Stärken zu besinnen, Wissensindustrien auszubauen und unseren Handelspartnern nicht unsere moralischen und politischen Ideen aufzubürden: Stichwort Lieferkettengesetz oder CO2-Grenzausgleich. Die EU sollte die Verbindungen mit den Ländern, denen wir schon heute wirtschaftlich sehr nahestehen, festigen. Das sind in erster Linie die USA, das Vereinigte Königreich und die Schweiz, wobei letztere für uns ökonomisch etwa so bedeutend ist wie China ohne Hongkong. Die beiden erstgenannten Länder sind unsere sicherheitspolitischen Partner in der NATO. Aber eine intensivierte militärische Kooperation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Desintegration macht wenig Sinn. Deshalb brauchen wir eine Wirtschafts-NATO, die den Freihandel unter den Partnern sichert und sich wehrhaft gegenüber anderen aufstellt.

Die anderen wären Russland, China?

Diese Länder und ihre Verbündeten, Iran etwa, scheinen aktuell daran interessiert zu sein, die wirtschaftliche und militärische Sicherheit des Westens zu untergraben. Uns geht es dann darum, technologische Vorsprünge abzusichern, Innovationen nicht zu schnell an Systemrivalen wie China, Russland, Iran oder Nordkorea zu verlieren, damit sie am Ende noch gegen uns verwandt werden. Wir haben Listen von Dual-Use-Gütern, die militärisch und zivil eingesetzt werden können, Exporte werden kontrolliert. Aber die Verfahren sind nicht einmal in der EU harmonisiert, geschweige denn mit den USA. Im Kalten Krieg gab es dafür eine Institution, um Technologieexporte in die sowjetische Hemisphäre zu unterbinden, das Cocom.

Das Coordinating Committee on Multilateral Export Controls wurde 1994 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aufgelöst. Es hatte dort viel Streit gegeben, weil die Europäer sich von den Amerikanern bevormundet fühlten.

Das war sicher nicht perfekt, aber man muss die Dinge zusammendenken: Wenn die eigene Sicherheit gefährdet ist, muss der Handel zurückstecken. Das kann unter Umständen bedeuten, Konzentrationszölle auf Importwaren zu erheben, bei denen man von einem oder wenigen Anbietern abhängig ist – nur um so andere Anbieter ins Geschäft zu bringen. Wer Wirtschaftssanktionen als Instrument der Politik akzeptiert, muss dafür sorgen, dass sie durchgesetzt und nicht umgangen werden. Deshalb sollte die EU erwägen, Sanktionsbrechern den Zugang zum Binnenmarkt zu versperren.

Sekundärsanktionen nach US-Vorbild? Das könnte teuer werden, für Europa.

Einfach wird das nicht. Aber auch das Ins­trument gehört dazu, angewandt am besten in enger Abstimmung mit den Amerikanern. Es geht um unsere Sicherheit. Das ist ein globales Thema wie der Klimaschutz. Hier wären eigentlich die Vereinten Nationen gefragt. Die schaffen es aber nicht. Deshalb brauchen wir Klublösungen: einen Klimaklub oder eben eine Wirtschafts-NATO. Denn es ist effizienter, gemeinsam Ziele anzusteuern, als wenn das jeder auf eigene Faust tut.

Apropos auf eigene Faust: In Amerika kommt jetzt mit Donald Trump ein Präsident ans Ruder, der Zölle liebt und den Handel als Waffe einsetzen will – auch gegen Europa.

Umso besser muss die EU sich wappnen. Entkoppelung ist keine Alternative. Wir sollten sicherstellen, dass die bilateralen Abhängigkeiten so strukturiert sind, dass sie möglichst symmetrisch sind. 2018 hatte der Kommissionsvorsitzende Jean-Claude Juncker Trump von Autozöllen auf europäische Autos abgebracht, indem er mit einer Digitalsteuer für amerikanische Unternehmen gedroht hat.

Haben die Europäer aktuell genügend Abschreckungspotential?

Die EU ist leider aktuell in einer dreimal schlechteren Lage als 2018: Zum einen hat sie eine ausgeprägte Wachstumsschwäche, dann erhöht der Krieg in der Ukraine die Verhandlungsmacht der Amerikaner, und drittens hat das Abnabeln von russischem Gas unsere Abhängigkeit von amerikanischem LNG verschärft. Trump könnte damit drohen, die LNG-Exportlizenzen zu beschränken. Dann fallen dort die Preise. Das würde die amerikanische Industrie freuen – die hiesige nicht. Trump hat ein paar garstige Hebel in der Hand, die er 2018 noch nicht hatte. Deshalb kommt es nicht nur darauf an, wie die EU die Verhandlungen führt, sondern auch, wer den „Deal“ mit Trump macht.

Die Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen, so wie 2018 ihr Vorgänger Juncker?

Das alles hat eine psychologische Komponente, wen man da ins Weiße Haus schickt: Mit wem kann Trump gut, wer kommt gut mit Trump aus? Da gibt es in der EU auf den ersten Blick nicht so viele Kandidaten. Trump nimmt das europäische Spitzenpersonal meist als Globalisten, sozusagen als Feinde wahr. Vielleicht solle die EU Victor Orbán mit Trump verhandeln lassen. Das könnte für Orbán die Rolle seines Lebens sein.

Das klingt angesichts der politischen Kontroversen, die der „illiberale“ ungarische Ministerpräsident in der EU regelmäßig anzettelt, verwegen.

Es gibt eine akademische Diskussion über die Frage, welche Repräsentanten die Länder zu Handelsverhandlungen schicken sollten. Manchmal ist es sogar gut, wenn bizarre Charaktere auftreten. Strategische Ambiguität spielt auch eine Rolle: Wir delegieren etwas und können nicht perfekt überwachen, was da passiert. Aber zum konkreten Fall: Orbán hat zu Hause eine große Autoindustrie, die durch Trumps Zölle gefährdet ist. Er ist ein Freund Trumps und hat ihn besucht, Trump hat ihn immer wieder gelobt. Zudem ist Orbán einer der wenigen europäischen Spitzenpolitiker, der nicht moralisiert. Also: Wenn Orbán die Chancen auf eine gütliche Einigung maximieren würde, warum es dann nicht mit ihm versuchen?