Ungleichheit | Zu Händen eine gerechte Familienpolitik: Der Aufschrei jener „100.000 Mütter“

Nicht einfach, so viele Mütter (und Väter) an einem Samstag und dann noch bei wenig einladendem grauen Berliner Himmel auf eine Demonstration an den Platz der Republik, direkt vor den Bundestag, zu locken. Nein, die mehreren Hundert Frauen und wenigen Männer sind nur ein Bruchteil dessen, was sich der Zusammenschluss als Motto auf die Fahnen geschrieben hatte: „100.000 Mütter“ sollten heute hier erscheinen, so lautete das Versprechen für eine bislang wenig gehörte Gruppe.

Denn von fehlenden Kindergartenplätzen, Altersarmut und dem Gender Pay Gap sind, eben, vor allem Frauen mit Kindern betroffen. Aber spricht dies nicht auch für sich? Viele der Mütter, die die Forderungen womöglich auch unterstützen würden, wenn sie davon wüssten und die Zeit und Energie hätten, sind wahrscheinlich mit Care-Arbeit, Brotverdienst oder durch schlichtes Plattsein verhindert. Eigentlich müsste die Demonstration, die am Bundestag mit einer Kundgebung endet, also rappelvoll sein. So soll sie immerhin den Startschuss für eine bundesweite Initiative darstellen.

Großdemos mit 100.000 Müttern sind für eine der Initiatorinnen, Sarah Zöllner, dabei aber erst mal nicht das primäre Ziel. Einige Tage vor der angekündigten Demonstration kann sie noch ein Gespräch mit dem Freitag in ihren Terminplaner quetschen. Im vollen Zug ruckelt die Telefonverbindung, im Hintergrund dröhnen Verspätungsansagen durch die Lautsprecher. Dabei geht es im Gespräch mit dem Freitag nicht um Verkehrspolitik oder die Baustelle Deutsche Bahn. Sondern um die aktuelle Familienpolitik, bei der besonders Mütter den Kürzeren ziehen: So sind gerade Frauen im Vergleich zu Männern öfter von (Alters-)Armut und gesundheitlichen Problemen betroffen. Schuld daran ist auch das sogenannte Ehegattensplitting, das in der Kritik steht, weil es Frauen nachweislich strukturell benachteiligt.

Aus Unzufriedenheit über die mangelnde politische Sichtbarkeit der Probleme von Frauen heraus gründete Zöllner, selbst Mutter von zwei Söhnen, die „100.000 Mütter“. Die Kampagne, die auch von anderen Mitiniatorinnen wie dem deutschen Müttergenesungswerk und dem Arbeitskreis Frauengesundheit und weiteren Initiator*innen aus dem gesundheitspolitischen Bereich gestartet wurde, begann online im Januar dieses Jahres. Und stieß bald auf viele offene Ohren.

Franziska Schutzbach ist dabei

„Über 50 Verbände aus verschiedenen Städten haben sich unserem Bündnis angeschlossen, das ist schon eine respektable Zahl“, erklärt die Journalistin und Autorin, die auch mit ihren Büchern auf die Stellung von Müttern in der Gesellschaft aufmerksam macht. Zuletzt erschien ihr Appell Mütter in die Politik! Wie der Einstieg in die (Kommunal-)Politik gelingt. „Das ist auch das Besondere an der Kampagne: Es passiert relativ oft, dass sich einzelne kleine Verbände für ein spezifisches Projekt zusammentun, aber wir wollten das klare Signal von einem großen, breit aufgestellten und vor allem vielfältigen Bündnis setzen“, sagt Zöllner.

Diese Vielfalt scheint sich auch in der schieren Menge an Forderungen der Initiative „100.000 Mütter“ niederzuschlagen. Die Website in rot-pinkem Design listet mehrere Postulate, die für die Durchsetzung bedingungsloser Gleichberechtigung nötig sind. Zum Beispiel ein „geschlechtersensibles“ Gesundheitssystem, das gleichzeitig frei von rassistischer Diskriminierung ist, die gerechte Verteilung und Anerkennung von Care-Arbeit, flächendeckende Präventionsangebote für Gewalt an Frauen. Die Quintessenz der Kampagne lässt sich an einem Satz ablesen: „Mutterwerden sollte nicht mehr der Punkt in der Biografie einer Frau sein, an dem sie ihre Gleichberechtigung verliert.“

Diese Ziele klingen gleichermaßen elementar wie einleuchtend – doch läuft solch ein Rundumschlag nicht Gefahr, zu verpuffen? Wäre es nicht besser, sich auf ein Spezialthema zu fokussieren, sei es Altersarmut von Frauen, den Gender Pay Gap oder fehlende Kinderbetreuung? Sarah Zöllner sieht gerade in der Allgemeinheit der Kampagne ihre größte Stärke: „Gerade dadurch, dass wir keine Ein-Themen-Kampagne machen, erreichen wir sehr viele Frauen aus ganz unterschiedlichen Milieus. Feministische Bewegungen in den letzten Jahren hatten, zumindest meiner Wahrnehmung nach, eine starke Tendenz zur Abgrenzung unter verschiedenen Akteur*innen. Diese Abgrenzung schwächt Frauenbewegungen von innen. Wir wollen Frauen aus ganz verschiedenen Lebensumständen zum Sprechen und, ja, auch auf die Bühne bringen.“

Der Ansatz der Kampagne sei intersektional, sagt Zöllner, nur sei das „auch wieder so ein akademisch geprägter Begriff“. Von Gewalterfahrungen und finanzieller Not seien aber vor allem alleinerziehende und migrantisch geprägte Mütter betroffen, die oft keine „Frauen aus der weiß-akademischen Mittelschicht“ seien. Hochgestochene Begriffe würden sie nicht erreichen und schon gar nicht mobilisieren. Im Vordergrund steht für die Initiative aber nicht nur die Idee der kollektiven Vernetzung, sondern auch die der Solidarität untereinander.

Zöllner beruft sich hier auch auf die Soziologin und Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach, die die Kampagne als eine von vielen Einzelpersonen öffentlich unterstützt und für eine neue Form der weiblichen Solidarität plädiert. Autorinnen und Journalistinnen finden sich auffallend viele auf der Liste von Unterstützenden, aber auch Ärztinnen, Dramaturginnen, Psychologinnen und die eine oder andere Bundestagsabgeordnete, etwa Svenja Stadler von der SPD.

Eine Erfolgsgeschichte, die mit einer Online-Petition startete, ist die von Natascha Sagorski, die die Kampagne ebenfalls unterstützt. Ihr Aufruf zu einer Erweiterung des Mutterschutzes schaffte es aufgrund der vielen Unterschriften und medialen Aufmerksamkeit in den Bundestag: Ende Januar 2025 wurde ein gestaffelter Mutterschutz ab der 13. Schwangerschaftswoche einstimmig beschlossen. Vorher waren Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden (das sind in Deutschland ganze 90.000 Menschen jährlich, etwa 80 Prozent finden vor der 13. Schwangerschaftswoche statt und bleiben weiterhin ungeschützt), vollkommen abhängig von der Einsicht und Empathie der jeweiligen Ärzte, die die Frau in solch einem Fall krankschreiben, um ihr die gebührende Erholung zu gönnen. Ein Skandal, wenn man die körperlichen und vor allem psychischen Folgen einer Fehlgeburt bedenkt.

Sagorski war selbst Betroffene, durch das Teilen ihrer Geschichte auf den gängigen sozialen Kanälen erlebte sie eine Welle der Solidarität. Ein Paradebeispiel für weibliches Empowerment, meint Sarah Zöllner. Auch sie selbst empfand das Mutterwerden als „biografischen Bruch“, und das sage sie aus der privilegierten Sicht einer „weißen, gebildeten Berufstätigen“. Wie damit umgehen? „Ein Thema, das einem persönlich wichtig ist, dient immer als guter Motor, um sich mit anderen zu verbünden. Oft merkt man dann erst, dass das eigene Problem kein privates bleiben muss, sondern gesellschaftlich relevant werden kann.“

Geld für einen Spielplatz

Müttern, die denken, sie hätten neben Care-Arbeit und Mental Load keine Kraft und Zeit für politisches Engagement, empfiehlt sie, im Kleinen anzufangen und im ersten Schritt ganz nah an der eigenen Motivation zu bleiben: „Familienpolitik beginnt schon auf der lokalen Ebene: Zum Beispiel, wenn man eine Kostendeckung für einen Spielplatz realisiert bekommen will. Dann wäre ein erster Schritt, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun, um im nächsten bei der Stadt oder einem Sponsor vorstellig zu werden und das praktisch umzusetzen.“

Einen konkreten Adressaten – oder, ja, auch Schuldigen – ihrer Forderungen nennt die Initiative allerdings nicht. In ihrem Programm finden sich keine Partei- oder Politikernamen. Die Devise scheint weniger feministischer Kampf als feministisches Miteinander zu lauten. Doch in den kommenden Monaten werde sich viel tun, die Belange würden mit Nachdruck in die Gremien gebracht, betont Zöllner. Durch die Wahlen und die insgesamt instabile Regierungslage habe sich eine Kontaktaufnahme bisher als schwierig erwiesen.

Auf dem Platz der Republik scheint inzwischen die Sonne. Prominente Rednerinnen wie die Soziologin Jutta Allmendinger, die seit Jahren die fehlende Geschlechtergerechtigkeit erforscht, aber auch von ihrem eigenen Leben als junge Professorin mit einem Baby erzählt, kommen auf die Bühne. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des in Hanau getöteten Ferhat Unvar sei hier, um den Traum ihres Sohnes von einer „gerechten und diskriminierungsfreien Welt wahr werden zu lassen“. Auch wenn dieser Kampf nicht leicht werde, ist sie überzeugt: „Wir Frauen haben eine große Kraft.“