UN-Gericht: Israel muss illegale Siedlungspolitik im Westjordanland verfertigen

Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) hat Israel in einem umfassenden Gutachten aufgefordert, die Besetzung der palästinensischen Gebiete „so schnell wie möglich“ zu beenden und vollständige Wiedergutmachung für seine „völkerrechtswidrigen Handlungen“ zu leisten. In einer historischen, wenn auch nicht bindenden Stellungnahme stellte das Gericht zahlreiche Verstöße Israels gegen das Völkerrecht fest, darunter auch Handlungen, die einer Apartheid gleich kämen.

Für Israels Verbündete wird das Urteil ernüchternd sein, denn das Gericht weist darauf hin, dass andere Staaten verpflichtet sind, die Besatzung nicht als rechtmäßig anzuerkennen und sie nicht zu unterstützen.

Der Präsident des IGH, Nawaf Salam, verlas am Freitag die Stellungnahme des Gerichts: Es sei der Auffassung, „dass die Verstöße Israels gegen das Verbot der gewaltsamen Aneignung von Territorium und gegen das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung direkte Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der fortdauernden Präsenz Israels als Besatzungsmacht in den besetzten palästinensischen Gebieten haben.“ Israel missbrauche seine Position als Besatzungsmacht, dieser anhaltene Missbrauch „durch die Annexion und die Behauptung einer permanenten Kontrolle über das besetzte palästinensische Gebiet und die fortgesetzte Vereitelung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung“ verstoße gegen grundlegende Prinzipien des Völkerrechts und mache die Anwesenheit Israels im besetzten palästinensischen Gebiet „rechtswidrig.“

Stellungnahme wird Druck auf Benjamin Netanjahu erhöhen

Die Stellungnahme wurde auf Ersuchen der UN-Generalversammlung im Jahr 2022 abgegeben. Sie geht dem Gaza-Konflikt voraus und steht nicht in direktem Zusammenhang mit ihm, wird aber den Druck auf Israel – und seine Verbündeten – erhöhen, seine Militäroffensive zu beenden, bei der nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza mehr als 38.000 Palästinenser getötet wurden.

Israels Militäroperation im Gazastreifen, die nach den Anschlägen vom 7. Oktober begann, bei denen militante Hamas-Kämpfer fast 1.200 Menschen töteten und 250 Menschen als Geiseln nahmen, ist Gegenstand eines separaten Verfahrens vor dem IGH, das von Südafrika angestrengt wurde, und das Israel in seiner Reaktion auf die Tötungen auf israelischem Boden des Völkermords beschuldigt.

Als Reaktion auf die Stellungnahme des IGH begrüßte das Büro des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas am Freitag die Entscheidung des Gerichts als „historisch“ und als „Sieg der Gerechtigkeit“. Israel müsse gezwungen werden, sie umzusetzen.

Das Büro des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu erklärte dagegen in einer Stellungnahme: „Das jüdische Volk ist kein Besatzer in seinem eigenen Land – weder in unserer ewigen Hauptstadt Jerusalem noch in unserem angestammten Erbe Judäa und Samaria [dem besetzten Westjordanland].“ Keine „Lügenentscheidung“ in Den Haag werde „diese historische Wahrheit verfälschen, und ebenso wenig kann die Rechtmäßigkeit der israelischen Siedlungen in allen Teilen unseres Heimatlandes bestritten werden“.

Konkrete Verstöße Israels in den palästinensischen Gebieten

Zu den vom Gericht festgestellten Verstößen gegen das Völkerrecht gehören:

  • Zwangsräumungen, umfangreiche Hauszerstörungen und Einschränkungen des Aufenthalts und der Bewegungsfreiheit.
  • Die Verlegung von Siedlern in das Westjordanland und nach Ostjerusalem durch Israel und die Aufrechterhaltung ihrer Anwesenheit.
  • Das Versäumnis, Angriffe durch Siedler zu verhindern oder zu bestrafen.
  • Die Beschränkung des Zugangs der palästinensischen Bevölkerung zu Wasser.
  • Die Nutzung der natürlichen Ressourcen in den besetzten palästinensischen Gebieten durch Israel.
  • Die Ausweitung des israelischen Rechts auf das Westjordanland und Ostjerusalem.

Das Haager Gericht befand, dass Israel gegen Artikel 3 des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (CERD) verstößt, in dem es heißt: „Die Vertragsparteien verurteilen insbesondere die Rassentrennung und die Apartheid und verpflichten sich, alle Praktiken dieser Art in den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern, zu verbieten und auszumerzen.“

Salam sagte: „Das Gericht stellt fest, dass Israels Gesetzgebung und Maßnahmen eine nahezu vollständige Trennung zwischen den Siedlergemeinschaften und den palästinensischen Gemeinschaften im Westjordanland und in Ostjerusalem vorschreiben und aufrechterhalten. Aus diesem Grund ist das Gericht der Ansicht, dass Israels Gesetzgebung und Maßnahmen einen Verstoß gegen Artikel 3 des CERD darstellen.“

Räumung aller Siedler aus den bestehenden Siedlungen

Das Gericht, das sich aus 15 Richtern zusammensetzt, forderte nicht nur die schnellstmögliche Beendigung der Besatzung, sondern auch die Beendigung aller rechtswidrigen Handlungen Israels, einschließlich der Einstellung aller neuen Siedlungsaktivitäten und der Aufhebung von Gesetzen, die die Besatzung aufrechterhalten, einschließlich solcher, die Palästinenser diskriminieren oder die demografische Zusammensetzung von Teilen des besetzten Gebietes verändern wollen.

Salam sagte, die Wiedergutmachung umfasse Rückgabe und/oder Entschädigung, wobei er Ersteres als „Israels Verpflichtung zur Rückgabe von Land und anderem unbeweglichen Eigentum sowie aller Vermögenswerte, die seit Beginn der Besetzung 1967 von natürlichen oder juristischen Personen beschlagnahmt wurden, und aller Kulturgüter und Vermögenswerte, die Palästinensern und palästinensischen Einrichtungen entzogen wurden, einschließlich Archiven und Dokumenten“ definierte. Sie verlange auch „die Räumung aller Siedler aus den bestehenden Siedlungen und den Abbau der von Israel errichteten Teile der Mauer, die sich in den besetzten palästinensischen Gebieten befinden, sowie die Erlaubnis für alle Palästinenser, die während der Besatzung vertrieben wurden, an ihren ursprünglichen Wohnort zurückzukehren.“ Wo Wiedergutmachung materiell möglich sei, solle stattdessen eine Entschädigung gezahlt werden.

Israel beteiligte sich nicht an dem Verfahren, bei dem die Argumente von 52 Staaten vorgebracht wurden, legte aber im Juli letzten Jahres ein schriftliches Statement vor, in dem es den IGH aufforderte, den Antrag auf ein Gutachten abzulehnen. Die dem Gericht vorgelegten Fragen seien voreingenommen und würden weder „Israels Recht und Pflicht zum Schutz seiner Bürger anerkennen“, noch auf israelische Sicherheitsbedenken eingehen oder israelisch-palästinensische Vereinbarungen zur Aushandlung von Themen wie „den dauerhaften Status des Gebiets, Sicherheitsvereinbarungen, Siedlungen und Grenzen“ anerkennen.

IGH stuft auch Gaza als besetzt ein

Das Gericht erklärte, es habe die Sicherheitsbedenken Israels berücksichtigt, doch könnten diese nicht „den Grundsatz des Verbots des gewaltsamen Gebietserwerbs außer Kraft setzen“, und die Auferlegung von Beschränkungen für alle Palästinenser sei „unverhältnismäßig“.

Das israelische Außenministerium wies die Stellungnahme als „grundlegend falsch“ und einseitig zurück und wiederholte seinen Standpunkt, dass eine politische Lösung in der Region nur durch Verhandlungen erreicht werden könne.

Israel hat das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen im Sechstagekrieg 1967 erobert. Es hat Ostjerusalem annektiert, was international nicht anerkannt wird, und betrachtet das Westjordanland als umstrittenes Gebiet. Hier findet israelischer Siedlungsbau statt.

Obwohl die USA ihr Militär und ihre Siedlungen 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen haben, erklärte der IGH, dass die anhaltende Kontrolle über den Streifen, die seit dem 7. Oktober zugenommen hat, bedeutet, dass er wie Ostjerusalem und das Westjordanland weiterhin besetzt ist und zusammen mit ihnen die besetzten palästinensischen Gebiete ausmacht.