Ukrainische und deutsche Historiker forschen zu Gewalt
Eigentlich sollte das neue deutsch-ukrainische Zentrum für Geschichtsforschung in Lemberg, das sich der Erforschung der Massengewalt des 20. Jahrhunderts in der Ukraine widmen wird, nach dem jüdischen Juristen Raphael Lemkin benannt werden – nach dem Mann, der den Genozidbegriff prägte. Doch die Kooperation zwischen der Ludwigs-Maximilian-Universität München (LMU) und der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) erhielt kurz vor ihrem offiziellen Beginn am 17. Oktober einen anderen Namen: Mykola Haievoi Center for Modern History. Der Doktorand Haievoi wollte hier forschen, aber er starb Ende August dieses Jahres als Soldat im Krieg.
Die Eröffnungsveranstaltung des Zentrums am Donnerstag vergangener Woche in Lemberg beginnt mit einer Gedenkminute für den Nachwuchshistoriker, der nur 28 Jahre alt wurde. Außer Kommilitonen und Kollegen ist auch seine Mutter anwesend. In einem Video, das zu Tränen rührt, loben Freunde Humor und Hilfsbereitschaft des Gefallenen.
Veranstaltungsort ist der am Stryjskyi-Park gelegene Campus der Katholischen Universität, in dessen Mitte der helle Bau der neuen Sankt-Sophien-Kirche steht. 2001 hatte Papst Johannes Paul II. den Grundstein für den Campus gesegnet, 2002 wurde die Katholische Universität, die Studenten und Mitarbeitern aller Konfessionen offensteht, eröffnet. Katholisch bedeutet hier griechisch-katholisch, eine auf die Union von Brest Ende des 16. Jahrhunderts zurückgehende Konfession, die in diesem Teil der Ukraine weit verbreitet ist und eine Mischform aus Orthodoxie und Katholizismus darstellt. Es gibt Ikonen, doch geistiges Oberhaupt ist der Papst.
Schon die Anfänge der deutsch-ukrainischen geschichtswissenschaftlichen Kooperation waren unter dem Vorzeichen des Krieges gestanden: Die Forscher rund um die Professoren Martin Schulze Wessel von der LMU und Yaroslav Hrytsak von der UCU kamen per Videokonferenz am 23. Februar 2022 zum ersten Mal in großer Runde zusammen, wenige Stunden vor Beginn der russischen Großinvasion.
Rückkehr der Gewalt aus der Vergangenheit
Zweieinhalb Jahre später wird das Zentrum auf dem Campus der UCU eröffnet, mitten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Folgt man im Gebäude neben der Kirche dem Wegweiser „Ukryttja“, Luftschutzbunker, gelangt man zum Kellerraum, in dem man sich am Donnerstag aus Sicherheitsgründen versammelt.
Hrytsak thematisiert die Rückkehr der Gewalt aus der Vergangenheit. Zwischen 1914 und 1945 seien jeder zweite Mann und jede vierte Frau auf dem Territorium der Ukraine eines gewaltsamen Todes gestorben – ein Ausmaß, das nur vergleichbar sei mit dem Dreißigjährigen Krieg. Zu Beginn seiner Forschung in den Achtziger- und Neunzigerjahren habe er gedacht, die Gewalt sei vorüber, spiele in der modernen Ukraine keine Rolle mehr.
Doch er lag falsch. Der Historiker verweist auf seine jungen Kollegen und Studenten, die jetzt im Krieg sind oder waren, auf den toten Mykola Haievoi. Sie hätten einen anderen Blick auf die Vergangenheit als die Historikergenerationen vor ihnen. „Für sie ist Krieg nicht Geschichte“, so Hrytsak.
Martin Schulze Wessel spricht von der Gefahr, die von den rechten und linken Bewegungen in Deutschland ausgehe, die „Putins Frieden“, also keinen gerechten Frieden für die Ukraine wünschten. Deutschland befinde sich im hybriden Krieg mit Russland, sagt der Münchner Professor und erinnert an die jüngsten Warnungen des BND vor der immer aggressiver werdenden russischen Sabotage auf deutschem Boden.
Kategorien von schwarz und weiß
Dieser Krieg erfordere eindeutige Zuordnungen, lasse sich nur in den Kategorien schwarz und weiß, gut und böse verstehen, so Schulze Wessel. Er nennt auch die Forschungsfragen, mit denen sich das deutsch-ukrainische Zentrum in Zukunft beschäftigen soll: Wie entsteht Massengewalt? Welche Spuren hinterlässt sie, wie wird an sie erinnert?
In perfektem amerikanischem Englisch meint der ukrainische Vizeminister Wynnyckyj, die Geschichte müsse durch das Prisma der heutigen Situation konzeptualisiert werden, denn man habe eine auf Regeln basierte Zivilisation zu bewahren. Der parlamentarische Staatssekretär Brandenburg erläutert per Video die organisatorischen Aspekte der Förderung durch sein Haus. Das historische Forschungszentrum in Lemberg ist eines von insgesamt vier neuen deutsch-ukrainischen Exzellenzkernen.
Es ist das einzige geisteswissenschaftliche, die übrigen widmen sich der Quantenphysik, Plasmatechnologie und Naturstoffforschung. Brandenburg betont, dass Putin historische Fakten verdrehe, was eine gefährliche Waffe in diesem auch ideologisch geführten Krieg darstelle. Dass Historiker sich dem entgegenstellen, sei mutig.
Den Höhepunkt der Veranstaltung bildet der Vortrag der Oxforder Historikerin Margaret MacMillan. Dieser Krieg, dessen Bilder aus den Schützengräben sie an den Ersten Weltkrieg erinnerten, zeige, so die Kanadierin, dass wir nicht schlauer seien als die Menschen der Vergangenheit – und auch, dass die vergangen geglaubte Zeit der Imperien nicht vorbei sei. Geschichtsschreibung könne die Zukunft nicht voraussagen, konstatiert MacMillan, aber sie helfe dabei, sich selbst und andere zu verstehen.
Man müsse stets skeptisch gegenüber Behauptungen im Namen der Geschichte sein, warnt die Historikerin: „Leider können schlechte Versionen von Geschichte sehr mächtig sein.“ Sie könnten genutzt werden, um Hass zu schüren oder Grenzverschiebungen zu rechtfertigen, was sie so gefährlich mache. Putins Aufsatz „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ aus dem Juli 2021 sei ein Beispiel für „sehr schlechte Geschichte“. Wäre der russische Diktator ihr Student gewesen, hätte sie ihn mit diesem Aufsatz gerade so bestehen lassen, versichert die Historikerin, und erntet zustimmendes Lachen aus dem Auditorium. Falls Russland den Krieg gewinne, werde das ein Exempel statuieren, so MacMillan. Auf dem Spiel stehe nichts Geringeres als die internationale Ordnung, warnt sie, und knüpft damit an ihren Vorredner, den ukrainischen Vizeminister an. In der anschließenden Fragerunde möchte dieser von der Geschichtsprofessorin wissen, ob Putin die Chuzpe haben werde, „die Bombe“ zu nutzen. Ihrer Aversion gegen Prognosen treu bleibend, entgegnet sie, das könne sie als Historikerin nicht sagen, nötig sei vielmehr eine gleichsam klinische Diagnose der Situation.
Alle verstehen sich in verschiedenen Sprachen
Die Eröffnungsveranstaltung wird umrahmt von einer Konferenz mit den involvierten Historikern, die ihre anvisierten Projekte diskutieren und die zukünftige Zusammenarbeit planen. Die Ukrainer sprechen Ukrainisch, die Deutschen Englisch, doch alle verstehen sich. Martin Schulze Wessel etwa plant, eine Geschichte der Ukraine vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute zu verfassen. Der einunddreißigjährige Mykhailo Martynenko, ein Doktorand der UCU, forscht zur sowjetischen Erinnerungspolitik rund um den Holocaust in Lemberg, nach der damals nicht Juden, sondern „friedliche sowjetische Bürger“ ermordet worden waren. Dass Juden nicht als eigene Opfergruppe benannt werden durften, hatte einerseits mit dem in der sowjetischen Propaganda vorherrschenden Narrativ vom Großen Vaterländischen Krieg zu tun, in den alle Sowjetbürger ohne ethnische Differenzierung gleichgestellt zu sein hatten, als auch mit einem latenten staatlichen Antisemitismus unter und nach Stalin.
Martynenko unterbrach seine Forschung und schloss sich am ersten Tag der Großinvasion den ukrainischen Streitkräften an, wo er fast zwei Jahre diente, bis er aus familiären Gründen demobilisiert wurde. Nun ist er wieder zu seinem Projekt zurückgekehrt, auf das er durch seine Erfahrung als Soldat freilich einen neuen Blick hat: Er werde in seiner Forschung mehr auf die personale Dimension des Kriegs achten und auch die jetzige russische Invasion in die Ukraine mit einbeziehen, erklärt er der F.A.Z. „Krieg ist vor allem eine menschliche Tragödie, Krieg bedeutet Verlust von konkreten Leuten mit konkreten Biographien“, sagt Martynenko, „leider sind es ziemlich viele. Dieses Zentrum trägt den Namen meines Freundes, der dessen Teil hätte sein sollen. Er starb, während er die Ukraine verteidigte.“
Der sogenannte Exzellenzkern in Lemberg hat eine Laufzeit von vier Jahren und wird mit insgesamt 2,5 Millionen Euro vom BMBF gefördert. Es geht um das Zusammenbringen ukrainischer und deutscher Forschungsdiskurse zu den Gewalttaten des 20. Jahrhunderts. Im Fokus stehen der Erste und Zweite Weltkrieg, sowohl Holodomor als auch Holocaust – Massenmorde, Zwangsarbeit, Deportation und Hunger.
Die Eröffnungskonferenz in Lemberg offenbart, was das Besondere an dieser Kooperation im Krieg ist – dass die beteiligten Historiker zwangsläufig durch das Prisma des russischen Angriffskriegs auf das 20. Jahrhundert in der Ukraine blicken. Und dass mit dem Einbruch der vergangen geglaubten Gewalt Geschichte und Gegenwart unweigerlich verschmelzen.
Source: faz.net