Ukraine | Winnyzja in der Westukraine: Eine Fahne auf jedem Grab

In der Region von Winnyzja schalten die Menschen die Apps zur Warnung vor Luftangriffen aus. Der Stress ist zu groß. Unterwegs in der Westukraine, in der der Krieg ebenfalls allgegenwärtig ist

Es bleiben nach der Einreise in die Westukraine etwa zehn Minuten, um sich mit einem „Eigentlich alles wie immer“ zu beruhigen. An den ersten Straßensperren ist das vorbei. Jedes Dorf, jede Brücke, jede Stadt hat Straßensperren. Es sind aufgetürmte Sandsäcke mit Schießscharten, versteckt unter Tarnnetzen. Auf einigen sind Heiligenbilder angebracht. Diese Hügel engen rechts und links die Straßen ein. Daneben stehen Unterkünfte aus Planen, Zelten oder alten Autos für die Bewacher. Einige Ortsschilder sind zugehängt, damit russisches Militär sich nicht orientieren kann. Daneben stehen Panzersperren aus Bahnschienen oder Baustämmen. Manchmal sind es auch nur Sandwälle, verstärkt mit Ästen für die Schießscharten, vieles wirkt auf schreckliche Art provisorisch. Auch die beiden Panzer, die unter Tarnnetzen in einem riesigen Sojafeld stehen. Die Panzer wirken nicht provisorisch, aber nur zwei? „Alles zusammen hilft“, sagt mir ein Ukrainer.

Abends zeigt mir eine Frau den Weg zu einem Lebensmittelgeschäft, das noch geöffnet ist. Die Läden schließen jetzt schon gegen fünf oder sechs. Ihre vierjährige Tochter schreit und schimpft mit der Mutter. Die hatte das Verdeck der Kinderkarre aufgeschlagen, aber ihre Tochter will unbedingt etwas über ihrem Kopf haben und reißt den Stoff wieder hoch.

Ein langer Heulton: Luftalarm

In der zweiten Nacht gibt es Luftalarm. Er beginnt leise, unscheinbar, so wie das Geräusch singender, schneller Lkw-Reifen auf Asphalt. Dann kommt der lange Heulton, laut, er geht hoch, runter, hoch, runter. Schließlich eine Männerstimme, unverständlich, aber energisch. Später wird mir gesagt, das sind Anweisungen, dass man Schutzräume aufsuchen soll. Welche Schutzräume? Unheimlich ist die Stille danach. Das ist die Stille, in der die Raketen fliegen, sie wissen wohin, wir wissen es nicht und warten. Wenn eine Rakete 700 Kilometer pro Stunde fliegt, kann es dauern, bis man weiß, ob man Glück hatte. Mit dem Gefühl der Erleichterung beginnt der nächste Luftalarm.

Wer sich eine Alarm-App auf sein Handy geladen hat, bekommt die Nachricht, dass die Gefahr vorbei ist. Die Farbe auf dem Display wechselt dann von Rot auf Grün. Aber viele in der Ukraine haben diese App deaktiviert, sie halten die Anspannung nicht mehr aus, sind müde, zermürbt. Das kann in den Dörfern helfen, den Krieg einige Minuten zu vergessen, denn hier sind keine Sirenen auf den Dächern installiert. Aber irgendwer hat immer ein Handy in der Tasche, das sich meldet, und in den Städten ist sowieso kein Entkommen vor den Sirenen. Weil die Leute es auch nicht aushalten, nichts zu wissen, gehen viele dann zum Computer und können sich dort auf einer Warnseite die wechselnden Farben für ihren Landkreis ansehen, Tiefrot bedeutet: ganz gefährlich. Der Osten ist fast immer tiefrot.

Ich sitze mit einem jungen Landwirt, der müde Augen hat, vor dem Computerbildschirm. Vor einem Jahr saßen wir hier auch schon mal, und er zeigte mir auf Satellitenaufnahmen den Reifegrad des Getreides auf den Feldern. Heute sehen wir etwas anderes an. Es sind 20 Raketen, die gerade über die Ukraine fliegen. Die Landkreise wechseln ihre Farben. „So viele hatten wir noch nie auf einmal“, sagt er. Dann zeigt er noch, wie man die NATO-Flugzeuge erkennt, die als rote Punkte über Rumänien und dem Schwarzen Meer kreisen.

Mein Besuch bei ihm steht unter keinem guten Stern, ich soll unbedingt etwas einsehen, und ich will nicht dazu gezwungen werden. Der junge Mann gibt mir zu verstehen, ich sei stellvertretend für Deutschland hier, und das tue zu wenig für die Ukraine, viel zu wenig. Zweitens, die ukrainischen Soldaten würden auch für Deutschland sterben, also auch für mich. Jetzt bin ich kurz davor zu gehen, aber der Weg hierher in diesen Betrieb war weit. Und dann sagt er: „Ist gut, das tut mir leid, aber ich bin es einfach gewohnt, im Ausland als ‚die Ukraine‘ angesehen zu werden.“

Dann führt er mir ein Handyvideo vor. „Das ist mein Freund, mit dem habe ich zusammen studiert, er ist jetzt Soldat.“ Dieser Freund kauert mit einem anderen jungen Mann in einem Erdloch, ohne Schutzkleidung, ohne Helm. Sie filmen sich gegenseitig, suchen mit ihren Augen den Himmel ab und ziehen den Kopf ein, wenn es in der Nähe kracht. Ein hartes, schreckliches Krachen, bösartig.

Ein Grab, eine Fahne

Bei einer Einberufung zum Militär gibt es so gut wie keinen Ausweg. Die Bürgermeister der jeweiligen Orte sind verpflichtet, Namen und Adressen von wehrfähigen und abkömmlichen Männern herauszusuchen. Diese bekommen dann Besuch von einem Kommissar, der ihnen ein Schreiben überreicht. Er lässt sich die Übergabe quittieren, der Antritt beim Militär ist zumeist in wenigen Tagen. Auf einem Friedhof in der Nähe wehen in einer Reihe ukrainische Flaggen. Jedes Grab hat eine Flagge. Sie gelten Soldaten, die in diesem Krieg gestorben sind, der erste am 26. Februar, der letzte in dieser Reihe am 7. Juli. Sein Foto hängt über dem Grab. Er trägt eine schusssichere Weste und lächelt.

Ich habe das Glück, dass ich einfach nach Hause gehen kann, wenn mir etwas zu unheimlich wird. An meinem letzten Morgen im Hotel geht es wieder los, Luftalarm. Galina, Rezeptionistin, Managerin, Reinmachefrau, alles in einer Person, steht in der Küche und zittert. Sie hält sich die Ohren zu und sagt, dass die Sirenen vor ihrer Wohnung direkt auf ihr Schlafzimmerfenster gerichtet seien. Sie erträgt das nicht mehr. Aber allein nach Deutschland zu gehen, die Sprache nicht zu können, und kein Mensch ist da, der Schutz gibt und Trost, das wäre noch schlimmer. Ihre Kinder würden sie drängen zu gehen. Aber sie hat Angst davor und will nicht fliehen. Galinas Sohn ist Soldat in Odessa. Wir sitzen in der Küche, dem sichersten Raum im Hotel, weil ohne Fenster, und essen Blaubeeren. Sie erzählt, dass zuletzt vier junge Männer aus diesem Ort ums Leben kamen, sie waren als Piloten in der Armee, keine Zeitung hat über ihren Tod berichtet. Nach einer Zeit der Stille geht sie zum Computer und sieht nach, wo es eingeschlagen hat, es waren drei Raketen in der Stadt Winnyzja.

Astrid Thomsen ist Agrarjournalistin und hat in der Ukraine zur Situation der Landwirtschaft recherchiert

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