Ukraine: Luft anhalten. Weiterspielen

Luft anhalten. Weiterspielen – Seite 1

Im Juni 2023 fahre ich nach Kiew, trotz der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Muss das sein, fragen mich viele. Das frage ich mich auch, je näher die Reise rückt. In ein Kriegsgebiet reisen? Sich in Gefahr bringen, das Elend anderer anschauen? Ja, es muss sein. Erstens droht die überlebenswichtige Weltaufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine nachzulassen. Und zweitens gibt es einen außergewöhnlichen Anlass: Theaterschaffende aus München machen sich auf den Weg, um in Kiew die parallele Inszenierung „ihres“ Schauspiels zu besuchen. Doch fangen wir von vorn an.

Im vergangenen Jahr beauftragen die Münchner Kammerspiele die ukrainische Autorin Natalia Vorozhbyt, ein Stück über den Krieg zu schreiben. In enger Zusammenarbeit mit dem Team um den Regisseur Jan-Christoph Gockel entsteht so Green Corridors. Vermessung eines Krieges. Inspiriert von ihren eigenen Erlebnissen auf der Flucht, machen sich in dem Stück vier Frauen aus Charkiw, Tschernihiw, Butscha und Kiew auf den Weg nach Europa. Genügend Stoff also für mehrere Abende, dessen Wucht sich umso heftiger entfaltet, als dass die Rollen von ukrainischen geflüchteten Schauspielerinnen gespielt werden. Anfangs können die Frauen lediglich Ukrainisch sprechen, eignen sich aber zunehmend die Sprache des Exils an. Beide Sprachen werden in Übertiteln übersetzt, sodass sowohl Deutsche wie Ukrainer dem Stück folgen können. Das Sprachproblem trifft die Identitätsfrage ins Herz, es sitzen sehr viele Ukrainerinnen in der Aufführung. Und als wäre das noch nicht genug, erzeugen die Zeichnerin Sofiia Melnyk und der Musiker Anton Berman mit ihrer begleitenden Live-Performance zusätzlich Spannung.

Nach der Aufführung in den Münchner Kammerspielen am 11. Juni machen sich Gockel, Melnyk und Maryna Klimova (eine der Hauptdarstellerinnen) auf die Zugreise nach Kiew, um zwei Tage später die Inszenierung desselben Stückes am Kiewer Podil-Theater zu besuchen. Dieser Reisegruppe schließe ich mich an, um zu sehen, wie Theater in Zeiten des Krieges funktioniert.

Zur Vorbereitung auf die örtliche Kulturszene kontaktiere ich Fabian Mühlthaler vom Goethe-Institut Ukraine. Leider ist er nicht vor Ort, berichtet aber, dass man die ukrainische Kultur nach besten Kräften unterstütze. „Aus unserer Sicht ist gerade die Resilienz und Entschlossenheit der ukrainischen Zivilgesellschaft, gerade mit Bezug zu Kultur und Bildung, ein Schlüssel zum Erfolg der ukrainischen Gegenwehr.“ Ausnahmslos alle, mit denen ich in den folgenden Tagen spreche, von der Botschafterin bis zum Off-Off-Theater, singen ein Loblied auf die tragende Rolle des Goethe-Instituts. Den Theaterleuten finanziert es diese Reise.

Im Nachtzug Richtung Kiew höre ich zum ersten Mal den Luftalarm aus dem Handy einer Mitreisenden. Beim zweiten Mal sind wir fast da. Das Timing ist gut: Als wir aussteigen, gilt schon wieder Entwarnung. Uns wird geraten, täglich etwa zwei Stunden Puffer für den Luftalarm einzuplanen.

Am Abend wird Green Corridors im Podil-Theater gespielt. Obwohl das Stück seine Protagonistinnen nicht unkritisch darstellt, hält Vorozhbyt die Aufführung in der Ukraine für richtig. Ein Glücksfall für das Theater, das sich eine Autorin wie Vorozhbyt allein nicht hätte leisten können. Was ich nicht erwartet hätte: Trotz aller Betroffenheit lacht das ukrainische Publikum viel in dieser Aufführung. Das habe etwas mit dem besonderen ukrainischen Humor zu tun, wird uns erklärt. Wir haben den Eindruck, das Stück hinterlässt Gesprächsbedarf beim Publikum. So entsteht die Idee, die Zuschauer beider Städte einmal zeitgleich per Videocall in den Austausch zu bringen.

Auf dem Weg zurück ins Hotel ertönt wieder der Luftalarm. Wir sitzen in der Metro – der sicherste Ort in Kiew –, setzen die Fahrt bis zum Maidan fort und warten dann in der Station. Es werden Klapphocker verteilt. Der Alarm dauert etwa 30 Minuten. Zeit, in der Maryna von ihrer Flucht erzählen kann. Am Morgen des 24. Februar sollen alle Bewohner von der left bank in Kiew, wo Maryna mit ihrer zwölfjährigen Tochter wohnt, auf die andere Flussseite wechseln – für den Fall, dass die verbindende Brücke zerstört wird. Schnell packen die beiden. Die Tochter ist fokussierter als die Mutter und denkt an Wasser und Medikamente. Sie fahren in die Wohnung einer Freundin, sind dort zu acht, übernachten wegen der Bomben in der Metro. Dann die Entscheidung, entweder in einen Außenbezirk wie Butscha oder nach Lwiw flüchten. Sie entscheiden sich zum Glück für Lwiw, warten zehn Stunden am überfüllten Bahnhof. Eine Freundin gibt ihr vorher den Tipp, Windeln anzuziehen, um die Schlange nicht verlassen zu müssen. Lwiw kommt ihnen dann wie eine andere Welt vor, es herrscht normales Leben. Erst viel später wird die Stadt angegriffen, als Maryna und ihre Tochter schon in Deutschland sind.

Der Alltagstrubel lässt einen die Befürchtungen vergessen

Jedes Theater in Kiew muss einen Luftschutzraum für das Publikum bereithalten. Die Fenster des Podil-Theaters etwa sind mit Sandsäcken gesichert, um bei Explosionen nicht zur Gefahr zu werden. Auch unser Hotel hat einen Bunker in der Tiefgarage eingerichtet. Gleich nach der Anreise sehen wir ihn uns an, neben Betten sind auch Tische, Sitzsäcke und ein Konferenztisch aufgestellt. Wir beziehen unsere Hotelzimmer in der Befürchtung, dass wir uns dort unten nachts wiederbegegnen werden.

Das nächste Theater auf meinem Programm ist das Wild-Theater. Es befindet sich im Obergeschoss des Dovzhenko Centre, eines alten Industriegebäudes, das mittlerweile als Raum für zeitgenössische Kunst und Kultur fungiert und Platz für 300 Zuschauer bietet. Der Raum ist wunderbar groß und hoch, als sollen die Gedanken hier fliegen können. Das Publikum besteht aus hippen, coolen Leuten, Teilen der kreativen Klasse. Es ist scharfe Kritik am Kultusminister zu hören: Statt die unterfinanzierten Institutionen des Centre zu unterstützen, wolle er das Gebäude abreißen und lukrative Neubauten errichten. Nach der Aufführung strömen die Leute aus dem Saal und machen sich eilig auf den Heimweg – bald beginnt die Ausgangssperre.

Um Mitternacht erneuter Luftalarm. Die Stadt ist still. Als der Alarm losgeht, erschrecke ich mich. Mit klopfendem Herzen schnappe ich meine Tasche, gehe die Stufen runter in die Tiefgarage und lege mich in eines der Betten. Alle um mich herum sind gelassen und leise. Gerade als ich einschlafe, ertönt die Entwarnung. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben, aber eine Lautsprecherstimme fordert dazu auf, wieder ins Hotelzimmer zu gehen. Benommen höre ich die Star Wars-Figur Luke Skywalker sagen: „May the force be with you.“ Doch irgendwie dringt das nicht durch. Gerade sind andere Dinge noch merkwürdiger.

Um halb vier geht es wieder los. Im Treppenhaus reihe ich mich in die aus dem Tiefschlaf gerissenen Gestalten ein, die schweigend Richtung Keller schlurfen. Wieder ins Bett, kurz lauschen, Stille. Der Schlaf kommt und wird abermals von Luke Skywalkers Entwarnung unterbrochen. Um fünf Uhr morgens pilgern die meisten zurück in ihr Hotelzimmer, diesmal per Fahrstuhl. Einige bleiben einfach liegen.

Ich nehme mir vor, beim nächsten Alarm genauer hinzuhören. Und tatsächlich spricht Mark Hamill als Skywalker mit jedihafter Gravitas: „Attention. Air raid alert. Proceed to the nearest shelter. Don’t be careless. Your overconfidence is your weakness.“ Die Ansage hat ihren Grund: Viele Leute halten sich in dieser sonst völlig normal funktionierenden Millionenmetropole nicht mehr an die Regeln des Ausnahmezustands – teils aus Müdigkeit, teils aus Bockigkeit, teils aus Fatalismus. Seit der Installation des Patriot-Abwehrraketensystems schlagen eigentlich keine Raketen mehr in Kiew ein. Es fallen aber bis zu 500 Kilogramm schwere Trümmerteile herunter.

Schnell gewöhne ich mich an die seltsamen Nächte. Wenn ich morgens aufwache, ohne von einem nächtlichen Luftalarm geweckt worden zu sein, wundere ich mich. Warum gab es keinen Angriff, habe ich etwas verschlafen? Der Alltagstrubel lässt einen die manchmal auftauchenden Befürchtungen bald vergessen. Unbewusst teilt man den Tag trotzdem in Phasen zwischen den Luftangriffen ein.

Nächste Theaterstation: das legendäre Dakh-Theater, aus dem auch das GogolFest hervorgegangen ist, mit dessen Kurator Andrii Palatny die kleine Theaterreisegruppe verabredet ist. Während wir in der U-Bahn sitzen, lärmt wieder einmal der Luftalarm. Als wir aussteigen, rufen wir Andrii an, um unsere bombenbedingte Verspätung anzukündigen. Die Antwort: Wir sollen einfach schnell rüberkommen. Das Theater liegt dicht an der Metrostation, dort seien wir sicher. Mit mulmigem Gefühl treten wir, an den Wartenden vorbei, raus auf die Straße. Der Verkehr ist dicht, überall sieht man Leute. Im Eilschritt laufen wir zum Theater – und finden uns hinter einer riesigen Schaufensterscheibe wieder. Das soll also sicher sein. Egal, Andrii fängt an zu erzählen, und sofort fängt man Feuer bei so viel Kreativität und Begeisterung. Sein Programm ist überbordend: Literatur, Musik, Theater, Film, bildende Kunst, Bildungs- und Kinderprogramm. Seit 2007 gibt es das Festival, seit 2012 auch mit internationalen Beiträgen.

Abends besuche ich eine Vorstellung im Left-Bank-Theater. Das Stadttheater gibt es seit 1978 mit wechselnden Locations, seit 1982 befindet es sich auf der linken Seite des Dnipro in einem ehemaligen Kino. Die Ausstattung ist so retro, dass sie schon wieder schick ist. Die Blackouts des ersten Kriegsjahres haben die alte Technik stark beschädigt, mittlerweile verlässt man sich auf Generatoren. Vor dreißig Jahren wurde hier erstmals ein Stück in ukrainischer Sprache gespielt, davor waren alle Aufführungen auf Russisch. Inzwischen sind weder hier noch auf anderen Bühnen in Kiew Stücke in russischer Sprache zu finden. Im Foyer des Theaters sind auf Fotos diejenigen Kollegen mit einer kleinen ukrainischen Flagge markiert, die schon beim Militär sind. Seit der Generalmobilmachung leben die Männer der Ukraine in der ständigen Gefahr, eingezogen zu werden. Jederzeit können sie auf offener Straße ohne Vorwarnung eingesammelt werden. Manche haben solche Angst davor, dass sie es kaum noch wagen, einen Fuß vor die Tür zu setzen.

Bei Luftalarm soll man sich in den hauseigenen Bunker begeben

Jede Theateraufführung in Kiew beginnt mit dem Hinweis, dass man sich im Falle eines Luftalarms in den hauseigenen Bunker begeben solle. Im Left-Bank-Theater ist es an diesem Abend so weit: Mitten in der Vorstellung – Home von Nicola McCartney – heulen die Sirenen los. Alle halten die Luft an. Wo geht’s lang, wer macht den Anfang? Die Schauspielerinnen sehen sich fragend an, während sie weiterspielen. Der Moment vergeht, das Stück läuft weiter, alle bleiben sitzen. Es fehlt einfach jemand, der die Initiative ergreift.

Den nächsten Luftalarm erlebe ich in Borodjanka, einer stark zerstörten Stadt. Gerade entdecke ich in den Ruinen eines großen Wohnkomplexes ein Graffito von Banksy, da gehen die Sirenen los. Fünf Minuten hat man Zeit, bis etwas vom Himmel fallen kann. Alle starren auf ihre Handys und versuchen, den nächsten Unterschlupf ausfindig zu machen. Ich scheitere und frage Passanten. Die schauen mich verständnislos bis belustigt an. Was ich suche? Einen Shelter? Kopfschütteln. Schließlich werde ich fündig: ein unterirdisches Fitnessstudio, das als Bunker ausgewiesen ist. Es ist sauber, geräumig und kühl. Luxus im Vergleich zu anderen Kellern. Hier gibt es nur ein paar Sportler, die an den Geräten trainieren. Siebzehn Minuten habe ich gebraucht, um hierherzukommen. Ich verfolge im Internet, dass es sich um den schwersten Angriff auf Kiew seit Langem handelt. Dort knallt es richtig, sechs Kinschal-Raketen werden abgewehrt.

Abends gehe ich ins repräsentative Iwan-Franko-Theater und sehe Caligula von Camus. An vielen Häusern ist eine europäische Ausrichtung des Programms zu beobachten. Die Vorstellungen sind gut besucht, so auch hier. Trotzdem muss das Iwan-Franko-Theater, immerhin ein Nationaltheater, auf seiner Homepage zu Spenden aufrufen. Die prekäre Situation hält das Haus nicht davon ab, regelmäßig Vorstellungen für die Soldaten an der Front zu geben.

Der Regisseur Maxym Golenko empfiehlt, die Ausstellung Ukraine – Crucifixion im Nationalen Historischen Museum anzusehen. Sie behandelt den „großen Krieg“, wie der Angriffskrieg von 2022 in Abgrenzung zum andauernden Krieg seit der Annexion der Krim 2014 genannt wird. Man sieht russische Ausrüstungsgegenstände und abgelaufene Konservenkost, die beweist, dass die Invasoren nicht für einen längeren Krieg ausgerüstet waren. Ebenso wird die gezielte Zerstörung ukrainischer Kultur dokumentiert. Nicht nur Kirchen, auch Museen wurden systematisch zerstört. Posthum hat etwa die ukrainische Malerin Marija Prymatschenko traurige Berühmtheit erlangt, deren Werke bei einem Angriff auf das Museum von Iwankiw verbrannt sind. Einige ihrer Bilder sind aktuell noch im Nationalen Museum für dekorative Volkskunst in Kiew zu sehen, das ansonsten leer ist. Alle anderen Exponate sind transportbereit in Kisten verstaut.

Die Abreise naht, ohne dass ich alle wichtigen Theater dieser ungebrochen lebendigen Kulturstadt besucht hätte. Mir ist klar: Solidaritätsbekundungen allein helfen nicht. Praktische Unterstützung kann Dinge ermöglichen, von denen alle Seiten profitieren. Das Sisterhood-Programm der Münchner Kammerspiele, das schon seit Langem auf internationale Partnerschaften mit Theatern setzt, ist ein gutes Beispiel dafür. Schon vor dem Krieg gab es Kooperationen der Kammerspiele mit Theatern in Kiew.

Dabei spielt nicht nur die Unterstützung der Ukraine eine Rolle, sondern auch der Informationsprozess in Deutschland. Und natürlich die Möglichkeit, ferne Realitäten im Theater erfahrbar zu machen.

Das ist die Währung, die für die Kiewer Theater und die Ukraine wirklich zählt: Aufmerksamkeit. Jeder Kontakt in der Ukraine endete mit den Worten: „Danke, dass ihr hier wart und berichtet.“ Ich fange schon an, mich an der Sinnhaftigkeit meiner Reise zu freuen. Wären da nicht die Realität und die Währung, die noch mehr zählt: „Mehr Waffen.“ Ohne Verteidigung keine Theater und keine Ukraine, das ist allen klar. Als meine Warn-App den nächsten Luftalarm verkündet, habe ich die Ukraine schon verlassen. Nur in Gedanken bin ich noch dort.