Ukraine-Krieg: Kann Selenskyj verstehen, welches die Bevölkerung durchmacht?

„Ich mache mir Sorgen, dass die Menschen hier immer fatalistischer werden und sich weniger um die Gefahr kümmern“, sagt Gregory Scherban, ein Freund von mir, ein Einwohner von Charkiw und ein Freiwilliger, der bei der Evakuierung derer hilft, die durch russische Angriffe auf Dörfer im Norden der Großstadt bedroht sind. Ich verstehe, was er meint. Als ich mit Kollegen durch den Norden von Saliwka gehe – einst ein bevölkerungsreiches Wohnviertel am Rand von Charkiw, das schon 2022 in der Anfangsphase des Krieges unter schwerem Beschuss lag – hören wir Explosionsgeräusche.

Ich habe Angst, aber meine Begleiter bleiben ruhig. „Es ist zu weit weg“, sagen sie beiläufig. Dann warnt ein Luftalarm vor Einschlägen, ohne dass sich die Arbeiter beirren lassen, die in der Nähe eine Straße reparieren, als wäre nichts los. Der Luftalarm kann für Stunden Bestand haben und nicht aufgehoben werden, daher ist es für sie offenbar keine Option, ihre Arbeit einzustellen.

Normalerweise wohne ich in Kiew, der dank mehrerer Patriot-Abwehrsysteme am besten geschützten Stadt der Ukraine. Wenn man hingegen Zeit in Charkiw verbringt, ist das mit ganz anderen Erfahrungen verbunden. In dieser Millionenstadt, die über keine ausreichende Luftverteidigung verfügt, liegen Normalität und immense Gefahr dicht beieinander, ebenso wie Tapferkeit und Trauer.

Es gab Spekulationen, dass eine Massenflucht ins Ausland die Folge sein würde

Vor dem Krieg produzierte Pavlo Kushtym Möbel in Charkiw und spielte zugleich in einer Reggae-Band. In den ersten Kriegsmonaten organisierte er für mehr als 600 Menschen provisorische Unterkünfte und half dabei, sie aus den gefährlichsten Gegenden einer Stadt zu evakuieren, die nur gut 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt.

Jüngst wurde er von Freunden beim Militär gebeten, in den Schützengräben vor Soldaten aufzutreten, die psychologischen Beistand brauchten. Sie baten ihn, nichts allzu Trauriges zu spielen, so stellte er in seinen Texten eine Welt des Friedens, der Schönheit und der Freundlichkeit her, in der alle Soldaten nach Hause zurückkehren würden und der russische Präsident einfach verschwunden sei. Kushtym erfuhr später – es war Wochen nach seinem Auftritt –, dass der gesamte Zug, vor dem er gesungen hatte, im Kampf gefallen sei. „Diese jungen Soldaten kamen aus Odessa. Das heißt, sie begaben sich auf einen weiten Weg, um meine Heimat Charkiw zu retten“, sagt er sichtlich betroffen.

Abgesehen von den persönlichen Geschichten der Menschen, denen ich in Charkiw begegnet bin, geht es auch hier wie in weiten Teilen des Landes um den Mangel an Personal für die ukrainische Armee. Einige sind verbittert darüber, dass sich nicht mehr Männer zum Dienst bereitfinden, andere beschweren sich über die Rücksichtslosigkeit der derzeitigen Rekrutierung, wenn Männer im dienstfähigen Alter auf der Straße angehalten und für eine mögliche Einberufung registriert werden.

Fast jeden Tag erfahre ich, dass jemand aus meinem Umfeld mobilisiert worden ist: ein Kollege, mein ehemals bester Freund an der Universität oder einfach nur ein alter Bekannter. Viele beeilen sich nicht, zur Armee zu gehen, weil sie davon ausgehen, früher oder später ohnehin an der Reihe sein. Am 18. Mai trat das neue Mobilisierungsgesetz in Kraft, das unter anderem die Zahl der Personen begrenzt hat, die wegen geringfügiger gesundheitlicher Probleme, aus familiären oder beruflichen Gründen als nicht tauglich oder mobilisierbar eingestuft sind. Außerdem wurde die Liste der staatlichen Behörden erweitert, die Vorladungen ausstellen können. Es gab Spekulationen, dass eine Massenflucht ins Ausland die Folge sein würde, bisher ist das nicht passiert. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden inzwischen rund 1,6 Millionen Ukrainer als potenzielle Soldaten registriert.

Die damit einhergehenden politischen Debatten sind hitzig, fast wie in der Vorkriegszeit. Es geht vor allem darum, wie momentan Steuern und andere Staatseinnahmen ausgegeben werden – für die Verteidigung oder für Sozialleistungen. Heftig bewegt die Frage, ob es angebracht ist, Spendenpartys und Musikfestivals zu veranstalten, auch wenn das Ziel darin besteht, Gelder für die Armee zu sammeln. Es gibt berechtigte Bedenken, dass von der Präsidentenadministration die Kontrolle über die staatlichen Medien verstärkt wird, denen dadurch zunehmend zentralistische Befugnisse im Interesse des Staates zugeordnet werden.

In Krisenzeiten verfügen Amtsinhaber notgedrungen über einen Krisenbonus

Die Frage, ob es Wahlen geben sollte, weil die Amtszeit von Präsident Wolodymyr Selenskyj abgelaufen ist, interessiert die Ukrainer am wenigsten, da im Land Kriegsrecht herrscht, was bedeutet, dass eine Präsidentschaftswahl gegenwärtig nicht stattfinden muss. Wenn russische Truppen auf ukrainischem Boden stehen, sind sich die meisten Bürger darüber im Klaren, dass es sich beim Kriegsrecht um keinen autoritären Trick handelt.

Die Ukrainer hätten nichts gegen Wahlen, aber sie müssten natürlich repräsentativ sein. Wie sollte das gehen, wenn Millionen geflohen sind, unter Besatzung leben oder in Schützengräben an der Front kämpfen? Wie kann man Wählerstimmen während der vielen Stromausfälle abgeben und danach sicher zählen? Die Ergebnisse dürften ohnehin vorhersehbar sein: In Krisenzeiten verfügen Amtsinhaber notgedrungen über einen Krisenbonus.

Tatsache ist, wir alle müssen öfter, als uns lieb ist, an Beerdigungen teilnehmen. Die Anlässe zum Trauern zwingen uns dazu, innere Fehden zu vergessen. In einem aktuellen Interview sprach Präsident Selenskyj über die unterschiedliche Einstellung der Ukrainer und des Westens derzeit. „Sie sagen, Zeit ist Geld. Für uns ist Zeit unser Leben.“ Menschen im Westen würden Sicherheit als selbstverständlich betrachten. Es sei für sie schwer zu verstehen, in jedem Augenblick an das physische Überleben denken zu müssen.

Was nichts daran ändert, dass es innerhalb der Ukraine Gefahrenlagen gibt, die sehr unterschiedlich sein können. Anstatt zu sagen, dass sich Selenskyj „aus der Höhe seiner Position“ äußert, bemerken wir oft, dass „er aus der Tiefe eines Bunkers spricht“, wo er seine Zeit hauptsächlich in einem engen inneren Kreis abseits der Schusslinie verbringt. Kann er dort unten verstehen, was die Bevölkerung durchmacht?