Ukraine | Bombenanschlag in Odessa: Überlebende Bodybuilder fühlen sich jetzt unverwundbar

Unser Autor traf in Odessa den Chef und einen Stammkunden eines Fitnessstudios, das sich in einem zerstörten Haus befindet – eine russische Bombe hatte es getroffen. Was die beiden Männer sagten

Wenn ich die Bedingungen, unter denen Journalisten im ukrainischen Kriegsrecht arbeiten dürfen, richtig verstehe, dann darf ich keine Details nennen. Ich lasse daher die Adresse dieses Hochhauses im Großraum Odessa weg, die Zahl seiner Stockwerke, seine Form. Ich nenne vorsichtshalber nicht das Datum, zu dem es von einer russischen Rakete getroffen wurde, auch nicht die Zahl der Todesopfer. Dann schicke ich zur Sicherheit noch voraus, dass die in meinem Bericht geschilderten Haltungen wohl kaum die mehrheitliche Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung widerspiegeln.

Ich fuhr an einem Augustmorgen zu diesem Hochhaus. Ausgerechnet in dem Augenblick, da ich darauf zuging, heulte der Luftalarm los. Wie in frontfernen Gebieten üblich, setzten alle Passanten ihren Weg fort. Die beschädigten Etagen waren schon wieder aufgemauert, und zwar sowohl auf der Vorderseite als auch auf der Rückseite – das Hochhaus muss förmlich durchbohrt worden sein. Auch wenn im ersten Moment alles davongerannt war, war das Haus durchgehend bewohnt. Viele Wohnungsbesitzer waren in den Westen geflohen und vermieteten an Vertriebene aus der russisch besetzten Südukraine. Die meisten Läden im Erdgeschoss hatten offen, vor dem Schönheitssalon rauchten Mitarbeiterinnen. Da dort ein Espresso zu bekommen war, betrat ich das fast leere Fitnessstudio. Keine 15 Meter weiter, auf der erhöhten Balustrade des Hochhauses, lag noch Bombenschutt, das weggeblasene Geländer war noch nicht erneuert.

Seine Frau ist in Düsseldorf

Der Chef des Fitnessstudios war äußerst gesprächig, klare Ansagen waren seine Sache nicht. Er war ein philosophierender Bodybuilder: „Was ich Ihnen heute sage, kann ich schon morgen als falsch erkannt haben.“ Ganz anders der dabeisitzende Stammkunde und wieder ganz anders die verstörend erotische Trainerin, die sich bei all diesen „Männerthemen“ für unzuständig erklärte. Der Chef differenzierte sogar bei seiner Antwort auf die Frage, ob ihm seine in die Umgebung von Düsseldorf evakuierte Frau nicht fehle: „Wenn wir noch ein halbes Jahr getrennt sind, ist es ein halbes Jahr. Wenn noch ein Jahr, dann eben noch ein Jahr.“

Für das Rätsel, warum gerade dieses Hochhaus getroffen wurde, kannte er „17 Versionen“, die er alle für sich behielt. Er war zum Zeitpunkt des Einschlags im Studio gewesen: „Da ich mich langweilte, rief ich kurz davor zwei Stammkunden an, die im Haus wohnten, ein junges Paar. Ich schlug ihnen vor, doch schon am Nachmittag trainieren zu kommen, nicht erst wie gewohnt am Abend. Wenn sie meine Einladung angenommen hätten, wären sie noch am Leben.“ Der Fitness-Unternehmer glaubte, Gott habe ihn gerettet. Er versuchte in den ersten fünf Tagen, runterzukommen, „mit ukrainischem Kognak und Jameson-Whiskey“, dann sperrte er – trotz eines Geschäftseinbruchs von 40 Prozent – das Studio wieder auf.

Die hier dem Tod um 15 Meter entronnen waren, brachten den Aggressoren natürlich keine Sympathien entgegen. Der Chef nannte sie nur „diese Leute“. Andererseits verachtete er aber auch den „Geist des Westens“, den er in seinem halben Jahr als Lagerarbeiter in Tschechien und beim Anblick der „Sklaverei für drei Euro Stundenlohn“ auf Orangenplantagen bei Valencia gespürt hatte. Er hielt das Andenken an Weltkriegshelden wie seinen Großvater hoch („russische Leute, bei minus 50 Grad!“) und verstand sich trotz allem als russisch-orthodoxer Christ: „Ob dort ein Kyrill, Petja oder Wassja sitzt, tangiert mich überhaupt nicht.“

„Nein, spenden Sie nicht für Waffen!“

Ich fragte ihn mehrmals, was mich im Land bewegte: „Wie kann ich Odessa und der Ukraine helfen? Soll ich Geld für Waffen überweisen? An wen soll ich für humanitäre Zwecke spenden? Oder soll ich meinen Lesern zu Urlaub in Odessa raten?“ Der denkende Bodybuilder gab eine Antwort von vollendeter Komplexität: Darin kamen die Einnahmen des Staates aus der verpflichtenden Kriegsabgabe vor, das unzureichende Sozialengagement ukrainischer Oligarchen und seine „von diesem Staat“ im Elend gehaltenen Großeltern, denen er nicht verdenken konnte, dass sie sich „für eine Rente von 500 Dollar“ vermutlich mit jeder Art von Besatzungsregime abfinden würden.

Der dabeisitzende Mucki-Mann sagte entschieden: „Nein, spenden Sie nicht für Waffen! Das verlängert nur den Krieg.“ Beide Muskelpakete hätten perfekte Soldaten abgegeben, baten aber nicht um Waffen. Ihr Hochhaus, das sie für die robuste Bauweise geradezu verehrten, war bereits getroffen worden. Seither fühlten sie sich unverwundbar. Als wäre der Krieg für sie vorbei.

Martin Leidenfrost schreibt im Freitag alle zwei Wochen über seine Reisen durch Europa

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