TV-Doku jenseits studiVZ: Ein deutsches Facebook war möglich

Im „Land der Ideen“ hinkte man gar nicht immer hinterher. Manchmal hatten deutsche Innovatoren auch – kurz – die Nase vorn, bevor sie gnadenlos abgehängt wurden. Das war bei Konrad Zuse so, der mit der Z3 schon 1941 den ersten voll funktionsfähigen Computer der Welt baute (was ihn trotzdem nicht reich machte). Auch die ankleidbare Bild-Lilli des Springer-Verlags von 1955, Vorbild für die Barbie-Puppe, schrammte an Mattels großem Reibach vorbei. Die tragische Geschichte der Terravision-Software, eines interaktiven Globus, den die Berliner Agentur Art+Com 1993 entwickelt und 1995 dummerweise im kalifornischen Mountain View vorgestellt hatte (von wo dann bald das ähnliche, aber ungleich erfolgreichere Google Earth kam), wurde sogar bereits für Netflix verfilmt.

Es ist verführerisch, auch die Geschichte des 2005 gestarteten Sozialnetzwerks studiVZ – die bis dahin am schnellsten wachsende Internetseite in Deutschland – in dieser Weise zu erzählen. Bevor das vor Investorenkapital starrende amerikanische Pendant Facebook überhaupt einen Fuß nach Europa setzte, hatte man den Markt in Deutschland und in einem Teil Europas bereits gut abgedeckt. So kam es 2006 zum Angebot Mark Zuckerbergs, das Portal studiVZ für einen Preis von fünf bis sechs Prozent der Anteile an Facebook zu übernehmen. Das wären auf Meta bezogen heute etwa 60 Milliarden Dollar.

Rot statt blau

Die Gründer aber verkauften studiVZ lieber für 85 Millionen Euro an die Verlagsgruppe Holtzbrinck, wo das Facebook-Angebot 2007 erneut abgelehnt und das nicht mehr weiterentwickelte Portal dann bis zum Abverkauf 2012 so heruntergewirtschaftet wurde, dass das agilere Unternehmen aus Kalifornien die Nutzer leicht herüberziehen konnte. Der damalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, räumt in der Dokumentation „Gruschel mich! – Die studiVZ-Story“ von Fritz Lüders ein, die schärferen hiesigen Datenschutzbestimmungen hätten einen Anteil an Facebooks Durchmarsch gehabt. Die Auflagen aus Schaars Haus hatten unter anderem zu einer unübersichtlichen Konstruktion der VZ-Netzwerke geführt: Neben studiVZ gab es noch – streng gesondert – schülerVZ und meinVZ. Drei Netzwerke ohne Verbindung.

Die Anmeldemaske von studiVZ ähnelte der ursprünglichen Facebook-Version. Anstatt dem Begriff „Registrieren“ nutzte studiVZ das studentische Synonym „Immatrikulieren“.
Die Anmeldemaske von studiVZ ähnelte der ursprünglichen Facebook-Version. Anstatt dem Begriff „Registrieren“ nutzte studiVZ das studentische Synonym „Immatrikulieren“.studiVZ

Aber diese Version der Geschichte hätte einen gewichtigen Makel, denn die Idee war ziemlich dreist abgeguckt. Gründer Ehssan Dariani – geboren 1980 in Teheran, schulischer Überflieger, BA-Abschluss in VWL an der Hochschule St. Gallen – hatte 2005 die ein Jahr zuvor in den USA gestartete Plattform Facebook kennengelernt und dann mit einem Kompa­gnon weitgehend kopiert, nur in Rot statt in Blau. Facebook strengte deshalb später eine Klage an, beließ es aber, weil man den eigenen Quellcode nicht offenlegen wollte, bei einem Vergleich. Ein manischer Großvisionär ist Dariani bis heute, ganz wie Zuckerberg. Vielleicht braucht es solche Persönlichkeiten für eine Marktdominanz. Es wundert wenig, dass man bald auch ähnliche Probleme hatte: Die Leitung von studiVZ bekam die Datenschutzverstöße, das Mobbing und rechte Propaganda auf der Plattform nicht in den Griff.

„Gruscheln“ – Was war das nochmal?

Eine der wenigen Eigenheiten von studiVZ war das „Gruscheln“: ein Gruß an eine andere Person im Netzwerk, die die Mitteilung erhielt, „gegruschelt“ worden zu sein. Weil sich schnell Männer in Gruppen zusammenfanden, die das Gruscheln attraktiver Frauen koordinierten, wurde daraus eine veritable Belästigungsfunktion (die übrigens auch an Zuckerbergs ursprüngliche Software Facemash erinnert, ein Bewertungssystem für die Attraktivität von Studentinnen in Harvard). Besonders fatal: CEO Dariani selbst tat sich hervor mit belästigenden Anfragen, teils unter weiblichem Pseudonym. Er lud auch grenzüberschreitende Videos junger Frauen ohne deren Einwilligung hoch.

Zwanzig Jahre nach der Gründung und drei Jahre nach der endgültigen Einstellung der Seite inklusive Löschung aller Nutzerdaten rekonstruiert Lüders’ Film für das NDR-Medienformat „Zapp“ in manchmal anstrengend jugendlichem Tonfall, aber gut recherchiert und mit noch nie gesehenem Material die unwahrscheinliche Geschichte des Netzwerks. Geleitet wurde es zunächst von einer Art Boygroup: Neben Dariani waren das der Informatiker und Mitgründer Dennis Bemmann, der junge Geschäftsführer Michael Brehm und der für das subversive Marketing verantwortliche Kleininvestor Dario Suter. Man feierte gemeinsam mit der Zielgruppe in Clubs und Diskotheken, man gewann Campus-Influencer, die ohne Bezahlung Werbung machten, weil es cool war, zu diesem neuen Szeneverein zu gehören. Das alles klingt nach dem Start-up-Spirit der Nullerjahre. Das unperfekt Handgemachte, die Partystimmung, das noch real fundierte Community-Gefühl – von Studenten für Studenten – waren Teil des Produkts, zumindest in den 14 Monaten vor dem Holtzbrinck-Einstieg.

Lüders’ Coup ist, dass der schillernde Gründer Dariani – „Ich war da jeden Tag auf Ritalin“ – hier erstmals in einer längeren Dokumentation auf sein gescheitertes Projekt zurückblickt, mit dem er persönlich sogar doppelt gescheitert ist, denn er wurde unter der Holtzbrinck-Führung schnell kaltgestellt. Dariani räumt profilneurotische Aktionen ein („Ich hab auch viel Dummes gemacht“), entschuldigt sich halbherzig dafür, wenn er „die Privatsphäre oder Gefühle verletzt haben sollte“. Er wirkt überdreht, sagt, an ADHS zu leiden. Seit Jahren geht er zur Therapie, der Film begleitet ihn. Vieles liege in seiner Biographie begründet, heißt es. Die Familie hat in den Achtzigerjahren Iran in Richtung Deutschland verlassen, kurz danach ließen sich die Eltern scheiden. Dariani glaubt, man wollte ihn canceln („Bis heute erzählt und postet er auch Verschwörungsmythen“, heißt es im Film). Entscheidend ist wohl das: „Ich wollte Freunde haben, deshalb habe ich das Ding gegründet“, sagt er glaubhaft, „ich wollte auch immer erster Freund werden von allen.“ Genutzt habe ihm das „nicht nachhaltig“. Da liegt der Grundwiderspruch sogenannter Sozialnetzwerke offen zutage: die Simulation von Nähe, die letztlich nichts anderes ist als die Steigerung von Einsamkeit.

Von neuen Plänen erzählt Dariani nichts. Er ist bis heute damit beschäftigt, den kurzen Ruhm als Tech-Star und den tiefen Fall danach aufzuarbeiten. Was uns die VZ-Netzwerke auch vor Augen führen: Es hat einen kurzen Moment gegeben, als ein deutsches Facebook denkbar war. Und vielleicht noch wichtiger: Es ist (oder war zumindest) möglich, dass auch große soziale Medien wieder aus der Welt verschwinden und sogar ihre eigene Datenspur weitgehend tilgen. Es fiele einem sofort die eine oder andere Plattform ein, auf die sich ebenso verzichten ließe.

Gruschel mich! – Die studiVZ-Story ist ab 5. Februar in der ARD-Mediathek. Ausstrahlung am 19. Februar, um 22.45 Uhr, im NDR.

Source: faz.net