#TexasText/Jamal Tuschick – Jamal Tuschick – Die Väter welcher Propheten
Eishaie erreichen ihre Geschlechtsreife im Alter von hundertfünfzig Jahren. Im Schneckentempo wachsen sie bis zu der Größe Weißer Haie. Es kursiert die Vermutung, dass sich im Arktischen Ozean Exemplare der Erforschung verweigern, die schon in der Kolumbusära existierten. In einem Grönlandwal, den man in diesem Jahrtausend gewaltsam auf Eis legte, fand man Harpunenspitzen, die verrieten, dass das Tier im 19. Jahrhundert seinen Jägern entgangen war. Obwohl Grönlandwale kaum natürliche Feinde haben, „bleibt ihr Überlebensprogramm immer in Alarmbereitschaft“ (David A. Sinclair).
Rückblende/1977
Die bleierne Zeit liegt in den letzten Zügen. Doris bessert im Pforzheimer Tonträger ihr Taschengeld auf. Die klamme Kundschaft kann da ohne Kaufzwang stundenlang Platten hören.
Kein Kaufzwang. Das ist die Geschäftsidee. Doris‘ Chef Bernie Dalinger ist ein verklebter Typ, ewig ungekämmt, verpennt und verpeilt. Trotzdem bestens informiert. Bernie sitzt jeden Abend im Treff und genießt sein Unternehmerglück im Kreis der Propheten. Diese Leute machen Ansagen und behalten Recht. Sie sind nach dem Abitur ohne Auszeit und Studium durchgestartet, selbstverständlich unter Umgehung staatsbürgerlicher Pflichten.
Die Väter der Propheten lassen ihre Beziehungen spielen. Sie sind mit ihren Söhnen auch schon bei befreundeten Sparkassenleitern (Tennisfreunden) vorstellig geworden und haben Kredite losgeeist: für eine neuartige Dämmstoffproduktion, für die Umgestaltung einer aufgelassenen Fabrik, für einen Weinhandel, der vierzig Jahre später als Mutterhaus von zig Filialen in aller Munde sein wird. Die Propheten verkörpern die nächste Generation des badisch-schwäbisch-bodenständigen Mittelstandes.
Michaela Frankenstein besucht Doris im Tonträger. Die beiden kennen sich aus Fürchtegott Hölzenbeins Yoga-Kurs im evangelischen Gemeindehaus von Mühlacker. Michaela hat einen totalitären Vater. Sie darf nicht jobben. Auch ihre Mutter ist dem „Haushaltsvorstand“ unterworfen. Sie trägt ihm die Schlappen nach und heftet sie an seine Füße. Vater Vincent gibt den bibelfesten Tyrannen in der Strickjacke. Er hält sich an eine anachronistische Verbotsliste und kritisiert die Manieren der Freundinnen seiner Tochter.
Gegen Vincent hilft nur träumen.
Jeder Jahrgang hat seinen Selbstmörder. Martin Rohleder lehnte sich mit Rimbaud gegen die Verhältnisse auf. Er lebte bei einer abgedrehten Oma und einem auf LSD-Trips in sein eigenes Sonnensystem vorgedrungenen Opa in einem Knittlinger Widerstandsnest. Michaela kommt gerade von der Beerdigung. Sie eist Doris los. Solange die Freundinnen sich etwas zu erzählen haben, vertritt Bernie die Aushilfe. Das gehört zum Laissez-faire. Die Separatistinnen tasten sich durch das Unterholz ihrer Gefühle. Sie bemerken nicht, dass sie beobachtet werden. Fürchtegott Hölzenbein verbringt einen Brückentag auf der Pirsch. Er stellt allen möglichen Leuten nach. Sich selbst auf dem Laufenden zu halten, ist eine Obsession des pietistischen Esoterikers. Er führt sich zurück auf jene dreitausend Waldenser und Hugenotten, die im August 1698 im Gefolge des niederländischen Diplomaten Pieter Valkenier aus dem Piemont nach Süddeutschland kamen und so auch in das Herzogtum Württemberg. Ihre „Kolonien“, am Reißbrett entworfene Sieldungen, heißen bis auf den heutigen Tag Klein- und Großvillars, Pinache, Corres und Serres.