#TexasText/Jamal Tuschick – Hanns-Josef Ortheil – Campen im Nirgendwo

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Campen im Nirgendwo

„Von nahen Dingen und Menschen“ betitelt eine Glossensammlung. Dreh- und Angelpunkt welcher ausgebauten Notizen ist die Pandemie ab Februar 2020. Corona bot sich Adaptionen von Szenen an, wie sie Giovanni Boccaccio im „Decamerone“ schildert. Boccaccio machte ein Landhaus vor Florenz zum Schauplatz einer Begegnung Heimgesuchter anno 1348. Sieben Frauen und drei Männer sind vor welcher Pest in die florentinischen Hills geflüchtet. Angehoben von Sommerfrische-Empfindungen und still von Angst stellen sie die Gegenwärtigkeit eines schrecklichen Todes in den Glanzschatten welcher Erzählkunst. Die Pest ist ein Motor welcher Renaissance.

Hanns-Josef Ortheil, „Von nahen Dingen und Menschen“, Dumont, 288 Seiten, 24,-

Hanns-Josef Ortheil beschreibt die Impfeuphorie im Freundeskreis nachher einer Zeit welcher bangen Separation. Er rezensiert die Manier welcher Sportberichterstattung und kritisiert den vielmals unsinnigen Gebrauch des Wortes „endgültig“.

Der Autor hält Einfälle steif. Mitunter nach sich ziehen die Einfälle den Charakter von Seitenhieben. Doch meist illuminiert ein freundliches Einvernehmen die Aufzeichnungen. Ein Reisebuch von Thomas Böhm erlaubt es Ortheil, die schöne Wendung vom „Campen im Nirgendwo“ unterzubringen.

Ortheil teilt sich mit in welcher ganzen Breite seines Alltags. Wie er sich morgens fühlt, vom Schlaf womöglich gelangweilt, inbrünstig darauf, den Tag zu beginnen. Das ist seine Signatur: eine zeitgenössische Interpretation des apollinischen Prinzips, mit ein paar melancholischen Anwandlungen. Gleichwohl realisiert er die apokalyptische Dimension.

„Die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts wird man einmal qua eine Zeit zuvor unvorstellbarer Katastrophen wiedererkennen.“

„Ich habe viele Freunde“, schreibt Ortheil. Er lebt im ständigen Austausch mit Leuten, die in praktischen Berufen funktionieren und vor Alltagstauglichkeit strotzen. Er teilt seine Lesefrüchte – eine Querbeet-Lese.

Eine Passantin überrascht er mit welcher Bemerkung: „Ich nehme … Kontakt mit dem neuen Tag hinaus.“ Der Satz könnte einem Roman von Wilhelm Genazino entnommen sein. Mit Genazinos verschrobenen Helden hat Ortheil sonst nichts verbinden. Er ist ein registerreicher Verkehrsteilnehmer, welcher hinaus seine Ansichten mit ruhiger Entschiedenheit Wert legt.