Streit in jener Ampelkoalition: Und immer lockt die „Rente mit 63“

Eigentlich geht es um den gewachsenen Arbeitsdruck im öffentlichen Dienst. Doch als das Ergebnis der Befragung vorgestellt ist, und das Thema auf die „Rente mit 63“ kommt, platzt Frank Werneke der Kragen. „Wer 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat, der muss auch die Möglichkeit haben, abschlagsfrei in die frühere Rente zu gehen“, betont der Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi).

Es sei ja gar nicht mehr die Rente mit 63, inzwischen sei man bei 64 Jahren – und es gehe auf 65: „Das wegzunehmen ist ein Schlag ins Gesicht derer, die eine Lebensleistung vollbracht haben.“ Diese sei viel höher als bei denjenigen, die nun die Rente mit 63 infrage stellten und keinen Tag im Leben richtig gearbeitet hätten: „Das wird als Frechheit und Affront empfunden, das ist ein Trauerspiel, was sich die Bundesregierung hier leistet.“

Forderung nach solider Finanzierung

Christian Dürr dürfte zu denjenigen zählen, auf die Warnekes Ausbruch zielte. Er gehört zwar nicht dem Kabinett an, ist aber als FDP-Fraktionsvorsitzender ein führendes Gesicht der Ampelkoalition. Der Liberale hat am Dienstag in mehreren Interviews darauf gepocht, sowohl den Bundeshaushalt als auch das Rentensystem im Interesse der nachfolgenden Generation solide zu finanzieren.

Im Jahr 1962 sei ein Rentner noch von sechs Beitragszahlern finanziert worden: „Heute ist das Verhältnis etwa eins zu zwei – ein Rentner, zwei Beitragszahler. Von den 2030er-Jahren an wird das Verhältnis eins zu 1,5 sein, ein Rentner auf etwa anderthalb Beitragszahler“, sagte Dürr im Deutschlandfunk. Zugleich verwies er darauf, dass der Bund schon heute „deutlich über 100 Milliarden Euro“ aus Steuermitteln an die Rentenversicherung überweise.

Erst am Vortag hatte das Präsidium seiner Partei ein Fünf-Punkte-Programm verabschiedet, das für ein Umdenken in der Rentenpolitik wirbt. „Die Rente mit 63 wie das Bürgergeld in seiner jetzigen Ausgestaltung setzen Fehlanreize, die wir uns nicht leisten können“, heißt es darin: „Wir brauchen jeden und jede am Arbeitsmarkt, damit es in Deutschland für alle wieder aufwärtsgehen kann.“ Der Staat müsse „im Rahmen der verfügbaren Mittel“ haushalten.

Seit Wochen pochen die Liberalen auf einen Kurswechsel. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sich gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters stemmt („absurd“), scheint sie nicht zu kümmern.

Die wenigsten arbeiten bis zur „normalen“ Altersgrenze

Derzeit arbeiten die wenigsten, bis die „normale“ Altersgrenze erreicht ist, auf die jeder Anspruch hat, der mindestens fünf Jahre in das System eingezahlt oder Kinder erzogen hat. Aktuell liegt diese für den Jahrgang 1958 bei 66 Jahren. Das Alter für die Regelrente steigt in den kommenden sechs Jahren auf 67. Wer auf 35 Jahre Beitrags- und Ersatzzeiten kommt, kann früher aus dem Erwerbsleben aussteigen. Allerdings ist dies mit Abschlägen verbunden – 0,3 Prozent je Monat. Frühestens geht dies mit 63 Jahren.

Wer zum Beispiel dem Jahrgang 1961 angehört und damit bis 66,5 Jahre arbeiten müsste, kann dreieinhalb Jahre vorher in Rente gehen. Dann muss er allerdings auf 12,6 Prozent seiner Rentenansprüche verzichten – dauerhaft und bis zum bitteren Ende. Besser haben es alle, die auf 45 Beitragsjahre kommen und als besonders langjährig Versicherte gelten, sie können vorzeitig abschlagsfrei in den Ruhestand gehen.

Das ging los mit 63 Jahren (daher Rente mit 63). Aber auch hier steige die Altersgrenze an, worauf Warneke hinwies. Doch auch in ihrem Fall kommen beim früheren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben keine weiteren Erwerbspunkte hinzu – das heißt, auch hier müssen die Betroffenen rechnen, ob sie sich das leisten können oder wollen.

„Rentner mit 63“ bekommen mehr Geld

Die offizielle Statistik zeigt eine Auffälligkeit. Wer sich für die Rente mit 63 entscheidet, hat eine überproportional hohe Rente: Besonders langjährig versicherte Männer, die im Jahr 2022 in Rente gingen, kommen durchschnittlich auf 1662 Euro, „Rente mit 63“-Frauen erhalten im Durchschnitt 1296 Euro.

Zum Vergleich: Für langjährig Versicherte weist die Statistik 1435 Euro beziehungsweise 984 Euro aus – bei Frauen dürfte die deutlich kleinere Durchschnittsrente auf die kürzeren Beitragszeiten wegen der Kindererziehung zurückzuführen sein.

Im Jahr 2022 sind rund 350.000 Männer in die Rente gegangen, 135.000 abschlagsfrei dank der „Rente mit 63“. Bei den Frauen waren es fast 110.000 von insgesamt 400.000.

Wann jemand in Rente geht, hängt von vielen Faktoren ab. Neben den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gehören dazu Gesundheit und die finanziellen Mittel jenseits der gesetzlichen Rente, also etwa Betriebsrenten, Mieteinnahmen oder Erbschaften. Das erleichtert den Verzicht auf Rentenanwartschaften. Aber natürlich gehört auch Arbeitszufriedenheit dazu.

Und so schließt sich der Kreis zur Verdi-Befragung. Denn die Antworten von fast 260.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst deuten auf eine hohe Belastung. Mehr als die Hälfte (56 Prozent) geht demnach davon aus, unter den gegebenen Bedingungen einschränkungsfrei bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten zu können. Gewerkschaftschef Werneke nennt das Ergebnis einen „Schrei nach Entlastung“. Mehr freie planbare Zeit sei dabei ein ganz wichtiger Faktor. Verdi werde in den kommenden Tarifrunden daher nicht nur Forderungen nach Lohnerhöhungen, sondern auch zu den Arbeitszeiten stellen.

Unabhängig davon dürfte die Rente ein wichtiges Wahlkampfthema werden. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat schon Gegenposition zu den Liberalen bezogen. Ihre Gruppe im Bundestag fordert eine harte Rentenwende. In ihrem aus fünf Punkten bestehenden Sofortplan verlangt sie nicht nur ein Zurück zur alten abschlagsfreien Rente mit 63 Jahren nach 45 Arbeitsjahren, sondern auch eine Volksabstimmung über die Rente zur nächsten Bundestagswahl.