Strand: Hinaus ins Ungeschützte
Alles liegt offen, alles wird uns geschenkt. Anders als in den Bergen, wo es den Aufstieg braucht, oft quälend steil und holperig, etwas für die Tüchtigen, die Leistungsbereiten, die nicht ruhen, bis sie den Gipfel bezwingen, geht es hier, am Strand, ganz ungezwungen zu und mühelos. Der Strand ist Tal und Gipfel zugleich, es gibt kein Oben, kein Unten, keine Hierarchien. Niemand muss hier die Weite erst suchen, sie ist da, umstandslos und für alle.
Wer an den Strand kommt, tritt ins Offene: der Himmel hoch, endlos die See, mehr ist hier nicht. Nichts und alles zugleich, was könnte schöner sein.
Und also drängt es die halbe Menschheit ans Meer, ihre Freizeit soll eine Freiheits-Zeit sein, besonders jetzt im Sommer. Der Strand, ein Kraft-, ein Sehnsuchtsort, rein und licht wie der Jüngste Tag. So wird er gepriesen, so sagen es die Prospekte: ein Glücksversprechen.
Doch ist es ein Glück, das sich dem üblichen Urlaubskitsch entzieht. Denn wer immer an den Strand geht, wechselt seinen Aggregatzustand: verlässt die zivilisierte, wohlsortierte Welt und begibt sich hinaus ins Ungeschützte. Hier gibt es keinen Schatten, keine Höhlen, keinen Rückzug, nur Wind in den Ohren, in der Nase die See, Sand zwischen den Zähnen. Der Strand drängt auf uns, dringt in uns ein, will nicht von uns lassen.
Als Martin Heidegger von Geworfenheit sprach, muss er, der Philosoph und Bergmensch, den Strand im Sinn gehabt haben. Denn nein, es ist keine sonderlich schöne Erfahrung, hier, im gänzlich entgrenzten Raum, die eigene Begrenztheit zu spüren, die eigene Nichtigkeit. Der Strand ist ein Zwischenreich: nicht richtig Land, nicht wirklich Wasser, ein sandiges Weder-noch (recht feucht mitunter). Und wäre der Strand eine Partei, sie würde gewiss nicht gewählt: verheißt keine Stabilität, will von harten Grenzen nichts wissen, ist von Natur aus migrantisch, immer in Bewegung, ohne Ziel und Zweck. Ein unmöglicher Ort, ruhe- und friedlos.
Das muss man mögen, muss man hinnehmen können. So wie der Strand es hinnimmt, dass er immerzu überrollt und überschäumt wird, vom Meer, das brodelt, schwallt, nie müde wird, der eigenen Unbezähmbarkeit einen oft dampfenden, manchmal brüllenden Ausdruck zu geben, weil die Wellen sich brechen und eine Kraft freisetzen, die tief aus dem Unbekannten des Ozeans heraufdringt und nun uns, den Strandgängern, mit Wucht vor die Füße spült.
Herrlich archaisch, so kann man das finden. Kann die Naturgewalt bewundern. Kann mit lustvollem Schrecken zusehen, wie an den Küsten des Atlantiks drei, vier Meter hohe Wellen ungebremst herandonnern und alle, die nicht auf der Hut sind, in ihren Rücksog geraten, der hinausströmt, weit hinaus, und plötzlich ist kein Halten mehr, der Boden unter den eigenen Füßen wird weich, verschwindet, zieht ab. Auch Nachgiebigkeit hat ihre Macht.
Erst bei Ebbe, wenn die See sich zurückzieht, wird der Schritt wieder fest, dann ist es, als hätte der Druck der Wassermassen den Boden verdichtet, die winzigen Körnchen zusammengepresst, sodass man selbst mit dem Fahrrad bequem darübergleitet. Aber auch das kann einem unheimlich werden, dort herumzuspazieren, wo eben noch Wellen waren, auf dem Grund des Meeres. Wenn man genauer hinschaut, sieht man noch das Kräuseln des Wassers, das die Sandkörner so lange hin- und hergetrieben hat, dass es nun aussieht, als würde auch der Strand sich kräuseln und kleine Wellen schlagen, überall Dellen und Buckel, die Erde hat eine Waschbretthaut.
Alles liegt offen, alles wird uns geschenkt. Anders als in den Bergen, wo es den Aufstieg braucht, oft quälend steil und holperig, etwas für die Tüchtigen, die Leistungsbereiten, die nicht ruhen, bis sie den Gipfel bezwingen, geht es hier, am Strand, ganz ungezwungen zu und mühelos. Der Strand ist Tal und Gipfel zugleich, es gibt kein Oben, kein Unten, keine Hierarchien. Niemand muss hier die Weite erst suchen, sie ist da, umstandslos und für alle.
Wer an den Strand kommt, tritt ins Offene: der Himmel hoch, endlos die See, mehr ist hier nicht. Nichts und alles zugleich, was könnte schöner sein.