Stellantis-Chef Carlos Tavares: Der Sturz des Autokönigs

Man kann im Autoreich von Carlos Tavares schon mal die Übersicht verlieren. Nicht weniger als vierzehn Marken zählen zu Stellantis, dem europäisch-amerikanischen Autokonzern, den der Portugiese führt – von Alfa Romeo und Fiat über Opel und Peugeot bis zu Jeep und Chrysler. Doch die wichtigste Stellantis-Marke war bisher der Vorstandschef selbst: Carlos Tavares ist ein Superstar der internationalen Autoindustrie. Als einen „Performance-Psychopathen“ hat er sich selbst mal scherzhaft bezeichnet, ein hagerer, effizienzbesessener Kostenkiller. Tavares hat sich damit im Autogeschäft ein ziemlich einzigartiges Renommee als Garant für satte Gewinne erarbeitet: ein Manager, der scheinbar über Wasser gehen konnte. Aber jetzt ist Tavares untergegangen.

Abzulesen ist das Drama am Aktienkurs von Stellantis. Ende März notierte die Aktie noch auf einem Allzeithoch von 27 Euro, aktuell kostet sie nur noch gut 12 Euro. „Es braucht Jahre, um eine Reputation aufzubauen, und nur ein paar Quartale um sie zu zerstören“, schrieben vergangene Woche die Analysten des amerikanischen Vermögensverwalters Bernstein in einer vernichtenden Studie. Die Börse befürchte, dass der Stellantis-Chef „die Kontrolle über das Geschäft verloren“ habe, heißt es darin. Von einem massiven Vertrauensverlust der Anleger spricht Bernstein-Analyst Daniel Röska.

Götterdämmerung bei Stellantis

Der Brand schwelt seit Monaten. Vor allem in den USA, bislang der größte Gewinnbringer von Stellantis, läuft es schlecht. Tavares hat lange abgewiegelt, alles nicht so schlimm. Bis es nicht mehr ging. Ende September stürzte der Kurs binnen eines Tages um 15 Prozent ab, nachdem Tavares die Gewinnprognose für dieses Jahr drastisch nach unten gesetzt hatte. Die Aktionäre verloren mehr als 6 Milliarden Euro an Börsenwert. Erholt hat sich der Kurs seither nicht.

Die Prognosesenkung kam zwar nicht völlig überraschend. Die Zeiten in der Autoindustrie sind so schwer wie lange nicht. Von einem „darwinistischen“ Zeitalter, in dem nur die Stärksten überleben, hat Tavares martialisch gesprochen. Auch VW, Mercedes und BMW mussten zuletzt ihre Ziele nach unten korrigieren. Aber die Kürzung bei Stellantis war heftiger als bei der Konkurrenz. Und sie kam völlig abrupt. Der Autobauer hat sein zuvor stattliches zweistelliges Renditeziel glatt halbiert.

Nun herrscht Götterdämmerung an der Stellantis-Spitze. Ende September hat das Unternehmen bereits bestätigt, dass Verwaltungsratschef John Elkann mit der Suche nach einem Nachfolger für Tavares begonnen hat. Elkann, der fast zwei Jahrzehnte jünger ist als sein 66 Jahre alter Vorstandschef, gehört der italienischen Industriellendynastie Agnelli an, die einst Fiat mitbegründet hat und heute Großaktionär von Stellantis ist. Der Arbeitsvertrag von Tavares als CEO läuft noch bis Januar 2026 – danach soll Schluss sein, das stellte der Stellantis-Verwaltungsrat nach einer Sitzung am Donnerstag klar. Sofort gehen müssen dagegen die Finanzchefin Natalie Knight und der für Europa verantwortliche deutsche Stellantis-Manager Uwe Hochgeschurtz. Wenn es nach der Börse ginge, würde wohl auch Tavares selbst rascher abgelöst als jetzt geplant.

„Wir waren arrogant“

Der Stellantis-Chef hat in den vergangenen Monaten die eigenen Versäumnisse sehr offen angesprochen. „Enttäuschend und erniedrigend“ seien die Halbjahreszahlen seines Unternehmens, räumte er im Juli ein – versicherte aber, das man das schon in den Griff bekomme. „Wir waren arrogant und wenn ich das sage, dann meine ich mich selbst, niemand anderen“, sagte er bei einem Besuch in Detroit. Viel früher hätte er gegensteuern müssen, als sich die Probleme im nordamerikanischen Markt abzeichneten, wo Stellantis mehr als die Hälfte seines operativen Gewinns erwirtschaftet.

Der Fehler von Tavares: Um die Rendite weiter nach oben zu treiben, hat Stellantis in den USA zu sehr an der Preisschraube gedreht. Analysten rechnen vor, dass der Konzern seine Preise in Nordamerika binnen drei Jahren um die Hälfte erhöht haben. Wichtige Stellantis-Modelle wie der riesige Pick-up RAM 1500 kosten inzwischen einige Tausend Dollar mehr als Konkurrenzmodelle. Die Kunden kaufen lieber woanders. Und bei Stellantis stehen in Nordamerika hunderttausende unverkaufte Autos auf Halde, die der Hersteller nun mit hohen Rabatten verscherbeln muss. Ein Desaster, dessen Ausmaß Tavares erst spät erkannt hat.

Es ist die Entzauberung eines Rendite-Magiers, die sich da abspielt. Seinen Ruf hat sich Tavares in den vergangenen zehn Jahren hart erarbeitet. Der brennend ehrgeizige Ingenieur war 2013 als Nummer zwei im Management von Nissan-Renault rausgeflogen, weil er in einem Interview gesagt hatte, dass er gerne selber Chef wäre. Ein offener Affront gegenüber dem damaligen Renault-Sonnenkönig Carlos Ghosn. Tavares übernahm im Jahr darauf die Führung des angeschlagenen französischen Peugeot-Konzerns PSA und rettete ihn vor der drohenden Insolvenz.

Drei Jahre später kaufte PSA von General Motors den chronisch defizitären Rüsselsheimer Traditionshersteller Opel. „Die einzige Option, die Opel nicht hat ist der Status Quo“, stellte Tavares damals klar und gab dem Opel-Management 100 Tage Zeit um einen Sanierungsplan vorzulegen („die Stoppuhr läuft.“). Ein gutes Jahr später wies Opel erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder einen Gewinn aus.

2021 fusionierte Tavares PSA dann mit dem italienisch-amerikanischen Wettbewerber Fiat-Chrysler zu Stellantis. Es war sein Meisterstück. Fünf Milliarden Euro an Kostensynergien bis 2024 versprach er damals. Schon Ende 2022 hatte er mehr als 7 Milliarden Euro erreicht.

„Ein von der Arbeit besessener Samurai“

Als einen „von der Arbeit besessenen Samurai“ beschrieb vergangenes Jahr der ehemalige französische Finanzminister Pierre Moscovici den Stellantis-Chef. Er hatte mit dem energischen Automanager während der Rettungsaktion für Peugeot viel zu tun. Tavares sei „anspruchsvoll, kalt, schnell und mit einer beängstigenden Effizienz“ ausgestattet, sagte der Politiker der Zeitung „Le Monde“ mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Gruseln.

Auch im Umgang mit Journalisten bevorzugt Tavares eine Direktheit, die selten geworden ist unter den Vorstandschef börsennotierter Großkonzerne. Wer fragt, der bekommt von ihm klare Antworten. Zum Beispiel an einem schwülwarmen Maitag in Rüsselsheim vor zwei Jahren. In der Opel-Zentrale trifft der Stellantis-Chef die F.A.S. zum Interview. Er kommt schnell auf den Punkt, formuliert emotionslos, ruhig und messerscharf: von wegen Qualität „made in Germany“! Tatsächlich sei die Fertigungsqualität der drei Opel-Fabriken in Rüsselsheim, Kaiserslautern und Eisenach dürftig. Chinesische Werke bauten Autos in besserer Qualität als deutsche, sagte Tavares und forderte „harte Arbeit“ der deutschen Stellantis-Manager, um das zu ändern.

Ein knappes Jahr später, das nächste Treffen, wieder in Rüsselsheim. Dieses Mal lobt Tavares die mittlerweile erzielten Qualitätsverbesserungen, zu denen er den Kollegen „gratulieren“ wolle. Er klingt wie ein Lehrer, der von den erfreulichen Fortschritten eines Problemschülers berichtet. Aber dann beschwert sich Tavares darüber, dass Deutschland das teuerste Land der Welt sei, um Autos zu bauen. Viermal so hoch wie in Osteuropa seien die Produktionskosten hierzulande. Zwar sei zugleich die Produktivität deutscher Arbeiter höher – „aber eben nicht viermal so hoch“. Ein Problem, dem jetzt auch der Konkurrent Volkswagen bei seiner renditeschwachen Kernmarke nicht mehr aus dem Weg gehen kann.

Bei Stellantis hat Tavares mit kompromissloser Härte auf Profit statt Masse gesetzt. Was sich nicht rechnet, wird eingedampft, verlagert, abgewickelt. Am Opel-Stammsitz in Rüsselsheim arbeiten heute noch rund 8300 Mitarbeiter, bei der Übernahme durch PSA vor sieben Jahren waren es 15.000. Die Automarken, die zu Stellantis gehören, verkaufen heute in Europa 40 Prozent weniger Fahrzeuge als 2017. Zwar ist der europäische Automarkt auch insgesamt geschrumpft, aber weniger als halb so stark.

Auch ganze Automarken könnten verschrottet werden, sagte Tavares im Sommer. „Wenn sie kein Geld verdienen, werden wir sie schließen.“ Unrentablen Ballast könne Stellantis sich nicht leisten. Im Marken-Sammelsurium der Gruppe gibt es einige mit viel Tradition, aber wenigen verkauften Autos, darunter etwa Lancia und Chrysler.

An der Börse kam das lange Zeit gut an. Wenn Investmentprofis in den Frankfurter Bankentürmen sich in den vergangenen Jahren den Volkswagen-Konzern ihrer Träume ausmalten, dann hatte dieser eine verblüffende Ähnlichkeit mit Stellantis. Tavares habe durch die radikale Vereinheitlichung von Fahrzeugplattformen, Entwicklung und Produktion über die verschiedenen Marken hinweg auch noch den letzten Synergievorteil aus seinem Auto-Konglomerat herausgequetscht, hieß es bewundernd. Im VW-Reich dagegen dürfen die Markenchefs in ihren Fürstentümern bis heute halbautonom schalten und walten.

Doch die Erfolgsstory von Stellantis ist brüchig geworden. Analysten fragen, ob die vielen Milliarden an Einsparungen, die der Stellantis-Chef nach der Fusion vor drei Jahren erzielt haben will, wirklich nachhaltig sind – oder nur ein Strohfeuer. Anders ausgedrückt: Stößt die Methode Tavares an ihre Grenzen?

Im September schrieb der Chef des amerikanischen Stellantis-Händlerverbands einen Brandbrief an den Stellantis-Chef, in dem er ihn frontal attackierte. Der Vorwurf: Tavares habe 2023 mit „rücksichtslosen Kurzfrist-Entscheidungen“ den Gewinn von Stellantis nach oben gejubelt, um seinen eigenen Jahresbonus zu maximieren.

36 Millionen Euro Jahresgehalt für Tavares

Tatsächlich hat Tavares sein Einkommen vergangenes Jahr um mehr als die Hälfte auf über 36 Millionen Euro gesteigert. Er war damit einer der am besten bezahlten Automanager der Welt. Mit seinem Fokus auf kurzfristige Gewinnmaximierung ruiniere er ikonische amerikanische Automarken wie Jeep, Dodge und Chrysler, warnte der Sprecher der Stellantis-Händler. Deren US-Marktanteil habe sich halbiert. Arbeitsplätze würden gestrichen, Fabriken geschlossen und scharenweise erfahrene Manager rausgeekelt. Gewerkschafter berichten ebenfalls, dass Führungskräfte regelrecht drangsaliert würden mit immer neuen E-Mails und Anrufen der Personalabteilung, ob sie sich nicht einen anderen Job suchen wollten.

Auch in Europa rebellieren die Autohändler gegen Tavares. Ein Streitpunkt ist hier der Klimaschutz: Der Stellantis-Chef unterstützt vehement die seit langem für 2025 geplante Reduzierung der CO2-Grenzwerte für Neuwagen in der EU. Seine Händler dagegen halten diese wegen der schleppenden Verkaufszahlen von Elektroautos in Europa für hoffnungslos unrealistisch.

Seine Tage als Stellantis-Chef sind nun gezählt. Aber was macht das Alphatier Tavares in Zukunft? Der leidenschaftliche Hobbyrennfahrer wird wohl auch weiterhin Autorennen fahren. Tavares trat sogar schon einmal in einem betagten Opel Calibra zum 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring an. Außerdem sei er glücklicher Großvater von vier Enkeln, ließ der Manager wissen. Er wolle in der Zukunft mehr Zeit mit der Familie in seiner Heimat Portugal verbringen, das Leben dort sei „ruhig und friedlich.“ Was Vorstandschefs eben so sagen, wenn der Ruhestand naht. Ruhe und Frieden? Nach Carlos Tavares klingt das nicht.