SS-Massaker im norwegischen Telavåg: Es bleiben viele Fragen

Erst hinter der letzten Biegung des schmalen Pfads, der von der Steilküste hinunter zum Wasser führt, entdeckt man die blassgrünen Häuschen. Wie brütende Seevögel ducken sie sich in die felsige Bucht. Innen stehen verrostete Köderdosen, auf einer alten Porzellantasse reckt Neptun seinen Dreispitz in die Höhe – Fundstücke, auf einem morschen Fensterbrett. Die Steinplatten auf den Dächern fügen sich nahtlos in das Graugrün der zerklüfteten Landschaft. Eine perfekte Tarnung – und der Grund, warum die Fischerhütten auch heute noch stehen, als stille Zeugen eines der größten Massaker auf norwegischem Boden. Denn am 30. April 1942 wurde das Dorf Telavåg im Südwesten der Insel Sotra, 39 Kilometer von Bergen entfernt, als Racheaktion der SS dem Erdboden gleichgemacht. Telavåg galt als Knotenpunkt des Widerstands. Von hier wurden norwegische Nazi-Gegner über die Shetland-Inseln zur Ausbildung nach England geschleust, als Widerstandskämpfer kehrten sie in Booten voller Waffen zurück.

Die Gestapo vermutete im Haus des Fischers Lauritz Telle und seines Sohnes Lars eine geheime Funkstation und Fluchthelfer, entdeckte dabei zwei norwegische Untergrundkämpfer, die gerade aus England angekommen waren. Bei einem Schusswechsel wurde auch der Gestapo-Chef für den Bereich Bergen getötet. Wenige Tage später umzingelten SS-Soldaten das Dorf, trieben die Bewohner auf eine Anhöhe und zwangen sie zuzusehen, wie ihre Häuser gesprengt wurden. Männer und Jungen ab 16 wurden ins KZ Sachsenhausen deportiert, knapp die Hälfte von ihnen starb dort. Frauen und Kinder brachte man in ein Internierungslager nach Framnes, zeitweise wurden die Kinder von ihren Müttern getrennt. Viele von ihnen hätten dieses Trauma später nicht verarbeitet, erklärt Tone Kolsrud Schulstock, die die Besucher im Museum empfängt. Überhaupt sei über die Tragödie lange geschwiegen worden. Nicht jeder sympathisierte mit den Widerstandskämpfern. Von der Aussichtsplattform des Museums überblickt man den Hauptteil des Dorfes, das idyllisch an einem Fjord liegt und 1946 wieder aufgebaut wurde. Die wenigen Dinge, die vor der Vernichtung gerettet werden konnten, sind innen ausgestellt: zwei Boote, die die Kämpfer von der norwegischen Küste nach England brachten, eine goldene Hochzeitskrone von 1881, ein alter Radio-Transmitter, und das neue Testament von Lars Telle, in das er seiner Familie letzte Abschiedsworte vor der Hinrichtung hinterließ.

Was in Telavåg geschah, hallte in der Kindheit von Komponist Håkon Berge nach

Die Ereignisse in Telavåg berühren auch die Kindheit des Komponisten Håkon Berge. Der 70-Jährige hat die Tragödie des Dorfes als zweiten Teil einer Trilogie für das Bergen-Festival vertont, das 1953 nach dem Vorbild der Salzburger Festspiele gegründet wurde. Unmittelbar vor der Premiere in der Håkonshalle erzählt er, wie einer seiner Onkel als junger Mann mit dem Shetland-Bus nach England gebracht wurde, ein anderer Onkel wurde in einem Fluchtboot angeschossen, Berges Mutter arbeitete als Waffenkurier im Osloer Untergrund.

Im Publikum sitzt ein Mann mit schlohweißem Haar, den Håkon Berge nach der Premiere umarmt. Er habe als Kind die Sprengung des Dorfes mitansehen müssen, sagt er, Tränen in den Augen. Endlich erzähle jemand seine Geschichte. Berge hat die Telavåg Tragedy der Militärkapelle der norwegischen Seestreitkräfte gewidmet. Eine musikalische Stärkung der Opfer? Berge nickt zögerlich. Ja, vielleicht, zumindest unterstütze sie die Perspektive der Dorfbewohner mit allen musikalischen Facetten. Fahle Flötentöne und scharfe Blech-Akzente untermalen historische Radioaufzeichnungen, die von den Aktivitäten der Widerstandskämpfer berichten. Ein Kammerchor leiht sowohl den Nazi-Schergen – auf Deutsch – als auch den verzweifelten Dorfbewohnern in Nynorsk seine Stimmen. Sieben Solisten, zwei Paare, ein Arzt, zwei Kinder stehen an der Rampe. Berge geht es nicht um dokumentarische Genauigkeit, sondern um exemplarische Schicksale und deren Schmerz, erklärt er. Sein Stück ist ein düsteres Oratorium, dessen spröde Deklamatorik manchmal dramatisch ausbricht und von den Zuhörern verlangt, in der scheinbaren Gleichförmigkeit die feinen Änderungen der Motive wahrzunehmen – die Dorfnachbarn zu Helden, Mitläufern oder Verrätern machen. Dann plötzlich fegt die Klanggewalt der Militärkapelle das Publikum von den Stühlen, erzählt in dumpfen Trommelwirbeln und kreischenden Posaunen von der Sprengung des Dorfes.

Das künstlerische Selbstverständnis Norwegens

Im alten Gemäuer der Håkonshalle entfaltet Berges Musik eine bezwingende Wirkung. Denn sie bringt Verbindungen zum Klingen, die an das nationale, auch künstlerische Selbstverständnis Norwegens rühren. Die von König Håkon um 1250 errichtete Festhalle verfiel und diente als Kornspeicher, bis sie 1873 vom norwegischen Landschaftsmaler Johan Christian Clausen Dahl als Kulturgut wiederentdeckt wurde. Dahl war ein enger Freund Caspar David Friedrichs und wie dieser Mitglied der Dresdner Kunstakademie. Die norwegische Idee der Nationalromantik orientiert sich also früh am deutschen Vorbild. Ein Filter, den es durchaus zu befragen gilt. Viele spätere norwegische Komponisten seien Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei gewesen, sagt Lars Petter Hagen, Direktor des Bergen-Festivals und Komponist, aus Gründen, die man rückwirkend auch mit Edvard Grieg erklären muss. Denn wie Grieg, zu dessen Lebzeiten es keine akademische musikalische Ausbildung in Norwegen gab, studierten auch spätere Komponisten-Generationen in Deutschland und wurden Teil der deutschen Kultur.

Der musikalischen Aufarbeitung des norwegischen NS-Traumas nun einen prominenten Platz im Festival einzuräumen, ist ein wichtiges künstlerisches Zeichen. Gerade in Zeiten neuer globaler Konflikte und Grenzziehungen. Ein geflügeltes Wort der Militärkapellen-Musiker lautet: Was sollen wir in einem Land ohne Kunst schützen?

Am Ende der Telavåg Tragedy singt die Mezzosopranistin Tora Augestad von Frieden. Sie fragt, worin dieser bestünde und ob Erinnerungen ihn jemals finden würden – a cappella, in wehmütig dunklem Pianissimo. Hier entfaltet die Tragödie ihr unermessliches Ausmaß – denn ihre Frage verklingt und bleibt ohne Antwort.