„Say Nothing“: Der Weg in die Gewalt und wieder hinaus
Was, wenn das Ziel, für das man gekämpft, Freunde in den Tod
geschickt, Bomben gebaut und geschmuggelt hat, für das man ins Gefängnis gegangen und
in den Hungerstreik getreten ist, nie erreicht wird? Hat sich der Versuch,
haben sich all die Taten dann dennoch gelohnt? Lassen sie sich irgendwie
rechtfertigen?
Diesen politischen, moralischen wie existenziellen Fragen ist der US-amerikanische Journalist Patrick
Radden Keefe in seinem erzählerischen Sachbuch Say Nothing. A True Story of
Murder and Memory in Northern Ireland nachgegangen, in Bezug auf die Zeit, die
man The Troubles nennt, den Teil des Nordirlandkonflikts, der von 1968 bis
1998 wütete und mehr als 3.500 Personen das Leben kostete. Say Nothing
erschien 2018 und wurde ein internationaler Bestseller; auf einer Liste der
besten Bücher des 21. Jahrhunderts der New York Times rangiert Say Nothing
auf Platz 19. Nun wurde das Buch sehr getreu verfilmt als neunteilige Fiction-Serie, die
komplett auf wahren Begebenheiten beruht.
Say Nothing versucht nicht, die ganze Geschichte des
Nordirlandkonflikts nachzuerzählen. Vielmehr konzentrieren sich Buch und Serie
auf eine Handvoll Protagonistinnen und Protagonisten, deren reale, genau
recherchierte Lebenswege nachgezeichnet werden – und wie diese sich
überschnitten. Der berüchtigte Bloody Sunday etwa, ein bedeutender historischer
Wendepunkt des Konflikts, wird deshalb nur am Rande erwähnt: Weil keine der
Hauptfiguren am 30. Januar 1972 in Derry dabei war, als britische Fallschirmjäger
auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer nicht genehmigten Demonstration für
Bürgerrechte schossen und dabei 13 Zivilistinnen und Zivilisten töteten sowie
weitere 13 schwer verletzten. Das Ereignis führte zur endgültigen Eskalation
des Nordirlandkonflikts.
Trotz historischer Lücken wie des Bloody Sunday setzt Say
Nothing kein Vorwissen voraus, um die Linien des Nordirlandkonflikts
nachverfolgen zu können, der auch stets ein konfessioneller war: auf der einen
Seite die Großbritannien weitgehend loyalen Protestanten, auf der anderen die
gegen die britische Herrschaft opponierenden Katholiken. Gleich am Anfang der
Serie wird anhand einer Irlandkarte selbstironisch erklärt, worum sich der
Konflikt dreht: „Die Sache mit (Irinnen und Iren, Anm. d. A.) ist, dass wir seit 800 Jahren
über denselben Scheiß streiten. Früher war das unsere Insel, bis die Briten sie
uns weggenommen haben. Wir haben versucht, sie zurückzuerobern, haben es aber
nicht ganz geschafft. Also behielten die Briten den oberen Teil (Nordirland,
Anm. d. A.) für sich. Und seither kämpft die IRA um die Wiedervereinigung des
Landes.“ IRA steht hier für die Provisional Irish Republican Army, eine 1969
gegründete paramilitärische Organisation und eine der selbsterklärten
Nachfolgerinnen der ursprünglich 1919 gegründeten Irish Republican Army, die
damals bereits gegen die britische Herrschaft kämpfte. Die Provisional Irish
Republican Army wollte dann ab Ende der Sechzigerjahre das Ende der britischen
Kontrolle über Nordirland und die Wiedervereinigung Irlands mit terroristischer Gewalt
erreichen; sie übernahm das Kürzel IRA.
Eine der Protagonistinnen von Say Nothing, aus deren Sicht
die Ereignisse erzählt werden, ist Dolours Price, als junge Frau gespielt von
Lola Petticrew. Price wurde 1951 im Westen Belfasts – „der Scheißseite der
Stadt“ – in eine katholische Familie hineingeboren. Ihr Vater war ein
Gründungsmitglied der IRA und erklärte Price bereits im Alter von sechs Jahren,
wie man bei einer gewaltsamen Befragung durch die britischen Behörden die
Klappe hält (indem man einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand fixiert) –
ein Ratschlag, der sich in Dolours Price‘ späteren Leben als nützlich erweisen
würde.
Ihr Vater verbrachte acht Jahre im Gefängnis (ihre Mutter
hingegen nur zwei Wochen), ihre Tante verlor durch eine
ungeplante Explosion ihr Augenlicht und beide Hände. Die drei glaubten, dass
man die Grundprobleme Nordirlands – eine segregierte Gesellschaft, in der
Arbeitsplätze, Wohnraum, Stimmrechte bei Wahlen immer an die Protestanten und
kaum an die Katholiken gingen – nicht gewaltfrei lösen könne. Dolours und ihre
jüngere Schwester Marian (als junge Frau gespielt von Hazel Doupe) waren als
zwangsläufig früh politisierte Teenager zunächst anderer Meinung. Sie glaubten
an gewaltfreien Widerstand. Bis die beiden auf einem friedlichen
Bürgerrechtsmarsch 1969 von Loyalisten auf der Burntollet Bridge gewaltsam
angegriffen wurden.
Die Schwestern wurden dann zu den ersten weiblichen Kämpferinnen
der IRA. Deren Gewaltaktionen waren bis dahin nur von Männern verübt worden,
Frauen waren lediglich als Unterstützerinnen und gleichsam medizinisches
Personal für im Kampf verletzte Männer vorgesehen gewesen. Dolours und Marian
überfielen als Erstes eine Bank. 1973 dann verübten sie im Alter von 22 beziehungsweise 19
Jahren gemeinsam mit Komplizen den Autobombenanschlag auf das Londoner
Old-Bailey-Gerichtsgebäude, es war der erste größere der IRA auf englischem
Boden. Die bald darauf inhaftierten Price-Schwestern traten anschließend im
Gefängnis in einen Hungerstreik.
Das alles wird in den ersten Folgen der Serie erzählt, die
so Spannung erhält und ein so packendes wie letztlich auch actionreiches
Porträt der Unruhen ist, inklusive typischer Reihenhauskämpfe, in denen
Figuren schon mal durch die Vordertür eines Hauses hineinrennen und gleich zur
Hintertür wieder hinaus. Doch Say Nothing will auch die Traumata würdigen,
die der Konflikt hinterlassen hat bei Opfern wie Tätern, mit all der Gewalt, mit
dem Terror der IRA und der staatlichen Gegenrepression Großbritanniens.