Sachbuch – Von Werthers Lotte jenseits die Avantgarde solange bis zu den Irokesen
Es hilft nichts, das muss mit Werther beginnen: „Lotte (…), ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: Klopstock!“ Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803) – damals Marke und Programm. Tränenreich säuselnde Empfindsamkeit, wo beim Schlittschuhlaufen Jüngling und Mädchen den Tag des ersten Kusses feiern, um schließlich „gesunden Schlaf“ zu finden, jeweils brav den eigenen. Vor 300 Jahren wurde Klopstock geboren. Ein gelehrter, umtriebiger, weit herumgekommener und ungemein innovativer Autor, der mit seinen Oden oder dem Messias eine ganze Epoche prägte. Er war, bei aller Empfindsamkeit, aber auch ein recht robuster Vaterländlicher, im exaltierten Hermanns Schlacht (1769) die heiligen deutschen Eichen gegen die Römer, seine literarischen Pamphlete gegen die Franzosen mobilisierend.
Kai Kauffmann hat sein Leben und Werk nun im Zeichen von Lottes Ausrufezeichen umfassend rekonstruiert. Nicht nur den Mann in seiner Zeit und dessen Werke, sondern auch den großen Liebenden ins Licht gerückt. Lessing hatte seinerzeit geschrieben: „Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.“ Das gilt für heute umso mehr, keineswegs aber für diese kluge Biografie, in der Sache ohnehin solide, in der Darstellung allerbestens lesbar.
Arno Schmidt hat sich an Klopstock produktiv gerieben, ihm einen fulminanten Radioessay gewidmet. Doch Spuren finden sich nicht nur in der Gelehrtenrepublik (1957), der Replik auf Klopstocks finanziell ungemein erfolgreiche, aber in der Rezeption eher desaströse Subskriptionsedition von 1774, sondern auch sonst in Schmidts Werk. Der Schmidtianer Winand Herzog hat diese Beziehung in einer ebenso kundigen wie originellen Monografie quicklebendig rekapituliert.
Entgegen seinen kalt-heroisch literarisierten Unbehaustheiten, zum Beispiel in den lustvollen Verwüstungen einer Wohnung im Bauhausstil in der Erzählung Nordseekrabben, hat Bertolt Brecht aufs stilvolle Wohnen durchaus Wert gelegt, ob im Sommerhaus am Ammersee, das er alsbald auf dem Weg ins Exil aufgeben musste, im dänischen Skovsbostrand, im kalifornischen Santa Monica, in der Villa in Weißensee, dem heutigen Brecht-Haus in der Berliner Chausseestraße oder dem heutigen Brecht-Weigel-Haus in Buckow. Ursula Muscheler hat Brechts Wohn- wie sonstigen Komfort fein nachgezeichnet.
Brecht war Avantgarde, die Bauhäusler, Dada sowieso, die Futuristen, aber auch Heiner Müller, Hans Magnus Enzensberger oder Barbara Frischmuth. Ist heute die Avantgarde von damals nicht mal mehr eine abgelebte Nachhut? Walter Fähnders, wackerer Avantgarde-Forscher, sagt: Nein. Er unternimmt es auf knappe, aber präzise Weise, die Geschichte der Avantgardisten und -innen Revue passieren und auf ein Nachleben hoffen zu lassen – nicht nur als Gespenster.
Ein so souveränes Buch schreibt man bestenfalls am Ende eines intensiven Forscherlebens. Und auch nur dann, wenn man weit über die Ränder des Fachs hinausgeschaut hat. In dezenter Abwandlung der zwölf Stämme Israels stellt der Ethnologe Karl-Heinz Kohl neun indigene Stämme Afrikas, Australiens, der Südsee und der beiden Amerikas vor, die einen wirksamen Einfluss auf die westliche Moderne hatten. Einfluss über unterschiedliche, meist ziemlich rabiate „europäische Vermittlungsagenturen“ – Landnehmer, Händler, Missionare, Ingenieure, Wissenschaftler. Im Blick die Aranda, Bororo, Dogon, Hopi, Irokesen oder Tupinambá. Indem er die jeweiligen kulturellen Spezifika mit den Kontaktgeschichten und den Fernwirkungen reich an Details und Anekdoten darzustellen weiß, ohne sich darin und die Zusammenhänge je aus den Augen zu verlieren, macht Kohl daraus zugleich einen fundamentalen Lehrgang zu geistigen Grundlagen der Moderne.
Dabei konturieren sich plastisch die mit Kapitalisierungsinteressen und Imperialismus, religiösem Eiferertum wie humanitärer Brüderlichkeit, wissenschaftlichen Hierarchietheoremen wie Kulturrelativismen verschlungenen Wege des Kolonialismus. Über zentrale Topoi wie Potlatch oder Totemismus, „Menschenfresserei“ oder sexuelle Libertinage führt er ein in das Ensemble anthropologischer, soziologischer und psychologischer Theorien und Konzepte wie in die oft mühseligen Wege von deren Optimierung. Namen wie Boas, Benedict, Freud, Leiris, Lévy-Bruhl, Lévi-Strauss, Marx/Engels, Mauss, Mead, Montaigne oder Parin. Nicht zu vergessen die Auswirkungen auf Künste und Autoren der Moderne, etwa auf Expressionismus oder Surrealismus, auf Benn, Breton, Fitzgerald, Kafka, Stevenson. Und in alledem nie Namedropping, sondern Grundlegendes, klar und klug.
Klopstock! Eine Biographie Kai Kauffmann Wallstein 2024, 420 S., 36 €
„… fleißiger gelesen“ oder Misfärstendnise eines Ferärers. Friedrich Gottlieb Klopstock & Arno Schmidt Winand Herzog edition paroikia 2024, 262 S., 20 €
Ein Haus, ein Stuhl, ein Auto. Bertolt Brechts Lebensstil Ursula Muscheler Berenberg 2024, 160 S., 26 €
Gespenster der Avantgarde Walter Fähnders BasisDruck 2024, 194 S., 18 €
Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne Karl-Heinz Kohl C. H. Beck 2024, 312 S., 32 €