Rechte Gewalt in UK: Manchmal sind Seemonster gut
Der informierte Bürger wird nicht gerne überrascht. Trifft ihn doch einmal ein Ereignis unvorbereitet, brainstormt er hastig nach Analogien zu Altbekanntem. Was bloß könnte meine Ratlosigkeit, meinen Schrecken und meinen Schrecken über meine Ratlosigkeit kaschieren? Was bloß könnte taugen zur Erklärung für die rechtsextreme Gewalt, die Großbritanniens Schaufenster, Polizeiautos und Moscheen seit Ende Juli anspringt? Ihr Katalysator: Ein Waliser mit ruandischen Wurzeln hat am 29. Juli im südenglischen Southport drei Mädchen erstochen. Für die Rechtsextremen avancierte er zur Inkarnation alles Verhassten: von den small boats, den kleinen Booten verzweifelter Flüchtlinge im Ärmelkanal, bis zur Verschwörungserzählung des great replacement, dem großen Austausch Heimischer durch Fremde im urweißen Westen.
Ich wohne seit neun Jahren in Cambridge. In den gotischen Zimmerchen der Universität habe ich Philosophie studiert, jetzt lehre ich dort. Rat suche ich in meinem Schrecken bei den Philosophen. Und blicke ich auf die brutalen Ausschreitungen und die düsteren Debatten, kommt mir immer wieder ein Denker in den Sinn, der schon im 17. Jahrhundert ein pessimistisches Menschenbild entwarf, das heute überall nachzuhallen scheint. Die Frage stellt sich: Hatte Thomas Hobbes etwa recht?
Erster Befund: Britische Rechtsextreme und deren Sympathisanten, wie zum Beispiel der Techmilliardär Elon Musk, reden angesichts der Vorgänge im Land von einem „unabwendbaren Bürgerkrieg„. Das passt womöglich, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung, denn Hobbes war ein geistiges Kind von Bürgerkriegszeiten. Sein berühmtestes Buch, den Leviathan, veröffentlichte er im Jahr 1651. Damals war England kurz eine Republik! König Charles I. war 1649 vom Parlament geköpft worden. In den Jahren zuvor: Bürgerkrieg. Doch der forderte bis zu 200.000 Opfer, damals fast fünf Prozent der englischen Bevölkerung.
Frozen Margaritas und Hassbotschaften
Vor dem Hintergrund dieses Gemetzels kann man über die neuen Bürgerkriegsdiagnosen nur höhnisch lachen. Die Erzählungen, die Rechtsextreme dazu im Internet verbreiten, sind bestenfalls überzogen, schlimmstenfalls gießen sie Öl ins Feuer. Die Guardian-Kolumnistin Marina Hyde nennt sie abfällig „would-be civil warfluencers„. Der Parlamentarier und Feldherr Oliver Cromwell, während der kurzen republikanischen Phase Englands dessen bedeutendster Staatsmann, hatte den Anstand, mit seinen Truppen zu kämpfen. Tommy Robinson, einer der Gründerväter der rechtsextremen English Defence League, lästert Hyde weiter, schlürfe stattdessen Frozen Margaritas in einem Fünfsternehotel am Mittelmeer, während er seine Hassbotschaften verbreitet.
Der zweite Befund verweist womöglich auf die erste wirkliche Gemeinsamkeit zwischen Hobbes‘ Zeit und der heutigen. Hobbes hatte zeitlebens Angst. „Meine Mutter“, schrieb er in seiner Autobiografie, „hat Zwillinge geboren: mich und die Furcht.“ Hobbes fürchtete den Menschen. Statt des Guten in ihm sah er nur: Neid, Hass, Krieg. „Krieg aller gegen alle“, wie er im Leviathan unvergesslich schrieb. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, wie er ebenso unvergesslich in Über den Bürger schrieb. Sind wir wirklich so gierig, so grausam, so animalisch? Beobachtet man vom Schreibtisch aus, wie vermummte Gestalten mit rot-weißer Englandflagge Steine auf Polizisten werfen, wie sie mit Hitlergruß Flüchtlingsunterkünfte stürmen, Geschäfte verwüsten und Autos anzünden, erscheint Hobbes‘ Menschenbild plötzlich nicht mehr grundfalsch. Die wölfischen Züge werden sichtbar. „Der Mensch“, fügte Hobbes hinzu, „kennt bei allem, was er besitzt, keine höhere Freude, als daß andere nicht so viel haben.“ Auch dieser Neid passt erschreckend gut zu den rechtsextremen Protestlern. Denn ist nicht deren größtes Leid, dass andere, Fremde, vermeintlich so viel haben wie sie – oder gar mehr?
Zudem ist Nigel Farage, einstiger Brexit-Antreiber, heutiger Chef der rechtspopulistischen Partei Reform UK und seit Juli britisches Parlamentsmitglied, ein Geschöpf wie aus dem hobbesschen Bilderbuch. Natürlich verurteilt er die Gewalt, aber er verbreitet auch die angst- und hassschürende Verschwörungserzählung des „two-tier policing„: der Zwei-Klassen-Polizeiarbeit. Die Polizei, sagen Farage und auch Robinson von der English Defence League, sei auf dem linken Auge blind, sie verurteile immer nur die eigentlich unschuldigen Rechten.
In Großbritanniens Geschichte gab es viel linken, teils auch migrantischen Protest, der in Gewalt umschlug. Hier nur drei Beispiele: 2011 in vielen Teilen von London, als die Polizei den Schwarzen Mark Duggan erschossen hatte. 1981 im Stadtteil Brixton, als Schwarze den Rassismus nicht mehr aushielten und Margaret Thatcher keinen Funken Verständnis zeigte. Sogar schon 1887, am ersten Bloody Sunday in der Geschichte des Vereinigten Königreichs, als irische Einwanderer gegen Arbeitslosigkeit und Unterdrückung protestierten. Hart bestraft wurde die Gewalt immer.
Farages Behauptung hält einer historischen Betrachtung also nicht stand. Das Wölfische kehrt sie trotzdem aus den dafür anfälligen Menschen heraus. Ähnliches verstand vor ihm schon Enoch Powell zu leisten, ein verstorbener konservativer Politiker und der wohl beste britische Redner nach Winston Churchill. 1968 hetzte er gegen Einwanderung: „As I look ahead, I am filled with foreboding; like the Roman, I seem to see ‚the River Tiber foaming with much blood‘.“ Powell war Altphilologe, seine Vorahnung klaute er aus Vergils epischem Gedicht Aeneis, in dem eine Priesterin Aeneas vor zukünftigen Kriegen in Rom und zukünftigem Blut im Tiber warnt.
Der informierte Bürger wird nicht gerne überrascht. Trifft ihn doch einmal ein Ereignis unvorbereitet, brainstormt er hastig nach Analogien zu Altbekanntem. Was bloß könnte meine Ratlosigkeit, meinen Schrecken und meinen Schrecken über meine Ratlosigkeit kaschieren? Was bloß könnte taugen zur Erklärung für die rechtsextreme Gewalt, die Großbritanniens Schaufenster, Polizeiautos und Moscheen seit Ende Juli anspringt? Ihr Katalysator: Ein Waliser mit ruandischen Wurzeln hat am 29. Juli im südenglischen Southport drei Mädchen erstochen. Für die Rechtsextremen avancierte er zur Inkarnation alles Verhassten: von den small boats, den kleinen Booten verzweifelter Flüchtlinge im Ärmelkanal, bis zur Verschwörungserzählung des great replacement, dem großen Austausch Heimischer durch Fremde im urweißen Westen.