Rainer Dulger: „Deutschland ist ein renovierungsbedürftiges Haus“

Das Verhältnis der deutschen Wirtschaft zur Bundesregierung ist nicht das einfachste. Insbesondere die Atmosphäre zwischen Kanzleramt und Wirtschaftsverbänden gilt als angespannt, was zuletzt darin gipfelte, dass BDI-Präsident Siegfried Russwurm der Ampelkoalition „zwei verlorene Jahre“ vorwarf. Bundeskanzler Olaf Scholz konterte trocken: „Die Klage ist des Lied des Kaufmanns.“ Der Chef der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Rainer Dulger, nahm die Diskussion auf dem F.A.Z.-Kongress am Freitag mit Humor: „Ich bin gar kein Kaufmann, sondern Diplom-Ingenieur.“ Das habe er auch dem Kanzler mitgeteilt.

Zu kritisieren hatte er dann doch einiges an der Wirtschaftspolitik der Koalition. Die Lage sei ernst, die Wirtschaft „ins Stolpern geraten“, und der Standort Deutschland mit seinen Kosten „aus der Wettbewerbsfähigkeit gerutscht“. Diese müsse in Deutschland und Europa aber wieder „in die Mitte politischen Handelns“ gerückt werden.

Schlüsselindustrie wandert ab

Die „Baustellen“, an denen die Politik konkret arbeiten müsse: Die Energiekosten seien zu hoch, die Infrastruktur marode, hinzu kämen der demographische Wandel und der Fachkräftemangel. „20 Prozent unserer qualifizierten Ingenieure sitzen zu Hause und passen auf unsere Kinder auf oder pflegen ihre Angehörigen, weil Kinderbetreuung und Pflege nicht richtig funktionieren.“ Allein im Handwerk seien aktuell 50.000 Stellen offen, denen 1,7 Millionen Arbeitssuchende gegenüberstünden. Für ausländische Fachkräfte müsse es Erleichterungen bei Arbeitserlaubnissen geben. Aus der Ukraine seien beispielsweise viele Frauen mit Kindern gekommen. Es müsse möglich sein, dass nun in Deutschland lebende Erzieherinnen auch ohne Deutschkenntnisse in Kindergärten auf ukrainische Kinder aufpassen dürfen.

Insgesamt führten all diese Baustellen dazu, dass schon jetzt Schlüsselindustrien aus Deutschland abwanderten, insbesondere Chemiebetriebe, klagte Dulger. „Und die verarbeitende Industrie wird ihnen folgen.“ Er verglich den Standort Deutschland mit einem „stark renovierungsbedürftigen Haus“: „Umso länger wir den Renovierungsbedarf kleinreden und mit der Renovierung des Hauses warten, umso mehr sinkt der Wert dieses Hauses, sagte Dulger in Anspielung auf den deutschen Wohlstand.

Klimaschutz dem Markt überlassen

Der Arbeitgeberpräsident, der im Hauptberuf selbst ein Mittelstandsunternehmen in Heidelberg führt, gab sich im Gespräch mit F.A.Z.-Herausgeber Gerald Braunberger kämpferisch. Deutschland habe immer noch die stärkste mittelständische Industrie in Europa. „Wenn ich nicht der Überzeugung wäre, das Ruder nicht noch rumreißen zu können, dann würde ich hier nicht sitzen“, sagte er unter dem Applaus vieler F.A.Z.-Leserinnen und -Leser. „Wir müssen jetzt aber aufpassen, dass wir vieles von dem, was wir erreicht haben, nicht in einer Wohlstands- und Sicherheitsillusion verfallen lassen.“

Den Klimaschutz solle die Politik den Gesetzen des Marktes überlassen. „Der Staat kann die Wirtschaft nicht bis ins Kleinste hinein steuern“, sagte Dulger, der nach eigenen Angaben jede Woche nach Berlin fliegt. Alles andere sei „Planwirtschaft“, die „in diesem Land schon einmal schief gegangen ist und auch wieder schiefgehen wird“.

Deutliche Kritik äußerte der Verbandschef auch an der Migrations- und Sozialpolitik der Ampel. „Wir haben viel zu viel Zuwanderung in unsere sozialen Sicherungssysteme erlebt und eben nicht in unsere Erwerbssysteme.“ Er forderte eine „offene und ehrliche Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme“. Mit Blick auf die Rente gebe es immer mehr Beitragsempfänger und immer weniger Beitragszahler. „Ich möchte aber, dass auch meine Kinder nach ihrem Arbeitsleben noch eine auskömmliche Rente bekommen in diesem Land.“ Dulger wiederholte die Forderung des BDA, das Renteneintrittsalter automatisch an die durchschnittliche Lebenserwartung zu koppeln. Die kapitalgestützte Rente und die betriebliche Altersvorsorge müssten gestärkt, die private Altersvorsorge steuerlich stärker begünstigt werden.