Porträt | Die neue Mozart: Die gefeierte Komponistin Missy Mazzoli im Porträt

Als „neuen Mozart unseres Jahrtausends“ hat die Presse Missy Mazzoli immer wieder gefeiert. Der Vergleich bringt die Komponistin aus New York zum Schmunzeln. Nicht nur, weil sie sich am berühmten Wunderkind-Kollegen schon als Filmkomponistin zur TV-Serie Mozart in the Jungle abgearbeitet hat, auch weil die Superlative der Anerkennung im klassischen Musikjournalismus manchmal so einfallslos sind. Dabei gebühren Missy Mazzoli doch andere Attribute.

Denn sie ist nicht nur die erste Frau, die einen Kompositionsauftrag der Metropolitan Opera erhalten hat und inzwischen bereits zum dritten Mal für einen Grammy nominiert wurde (zuletzt erst für ihr Concerto Dark with Excessive Bright für Kontrabass und Streichorchester). Mazzoli ist auch Jazzpianistin und Hochschullehrerin.

Vor allem aber gilt sie als wegweisende Musiktheaterkomponistin des 21. Jahrhunderts, die mit Geschichten, die den Zeitgeist einfangen, ein völlig neues Publikum erschließt. An der Lyric Opera of Chicago bereitet sie nun die Premiere ihrer jüngsten Oper, The Listeners, vor. Ein besonderer Grund, sich mit Mazzoli zu unterhalten, während sich die Schlagzeilen aus Trumps USA im Dauerstaccato überschlagen.

Wir treffen uns im vierten Stock des Civic Tower, hinter einer Art-déco-Tür ein nüchternes Besprechungszimmer mit langem Tisch, ordentlich aufgereihten Stühlen und Videobeamer. Lediglich zwei Kostümskizzen aus einer früheren Ring-Produktion verraten, dass wir uns tatsächlich im Theater befinden und nicht in einem Steuerbüro des Chicagoer Finanzviertels. Missy Mazzoli stellt ihren Kaffeebecher ab und wirft einen großen schwarzen Rucksack daneben.

Missy Mazzoli dekonstruiert den American Dream

Je verrückter die Nachrichten, desto mehr hätten die Menschen das Bedürfnis, ihren Standpunkt und ihre Gefühle dazu zum Ausdruck bringen, erklärt sie. Für sie selbst gewinne die Oper deshalb immer mehr an Bedeutung, sagt Mazzoli und lehnt sich gegen die Bühnenskizze aus Wagners Ring, in der Wotan seinen Speer weit in den Himmel reckt.

Wo sonst könne sie mit Künstlern aus unterschiedlichen Bereichen so intensiv an der Inszenierung einer Geschichte arbeiten – und Erfahrungen teilen? Ihre erste Oper habe sie erst mit 19 gehört, an der Met. Alban Bergs Wozzeck, in der letzten Reihe des obersten Ranges habe sie kaum etwas sehen können, trotzdem sei ihr Maries Geschichte damals so nahe gegangen wie kaum etwas anderes. Ein Schlüsselerlebnis.

Für ihre früheren Musiktheater-Werke wie Proving up und Song from the Uproar hatte Mazzoli Romane, Biografien und Filmstoffe adaptiert, Geschichten des Scheiterns und Aufstiegs erzählt – als bissige Dekonstruktionen des American Dreams. Sie hat auch der klassischen weiblichen Opferfigur zu neuer Autonomie und Würde verholfen, wie ihrer Protagonistin Bess McNeill in Breaking the Waves. Das Werk wurde von der Kritik als „herzzerreißend wild und originell“ gefeiert, gewann den Preis für die beste neue Oper der Music Critics Association of North America.

Für The Listeners wollte Mazzoli einen bislang unberührten Stoff. Ihr Freund, der kanadische Schriftsteller Jordan Tannahill, habe dann die Idee mit dem „hum“, dem unaufhörlichen Brummen, gehabt, erzählt sie. Ein mysteriöser Virus, der die Aufmerksamkeit auf einen einzigen Ton lenkt. Während dieser ins Monströse wächst, schrumpft die Welt der Betroffenen, isoliert sie vom Rest der Gesellschaft. Die Skizzen, die ihr Tannahill vorlegte, hätten sie sofort überzeugt, sagt Mazzoli. Jetzt bilden sie den Prolog ihrer jüngsten Oper. Beklemmende Rezitative vor einer Webcam, die das Premierenpublikum in Chicago zu Voyeuren macht.

Protagonist Howard ist keine Trump-Adaption für die Bühne

Thoms offenes Haus beispielsweise hat sich in ein forensisches Labor gewandelt, das nur noch aus Papierstapeln gehorteter Beweise für die mystische Frequenz besteht. An Danicas Körper ist kein Zentimeter mehr unversehrt. Aus Angst vor dem unaufhörlichen Brummen hat sie sich Karos und Linien in die Haut geritzt, ihre Narben verraten die Fluchtrouten. Und in Dillons Kopf wuchert der ominöse Sound wie ein Pilz – „er ruiniert mein Leben“, singt er verzweifelt in die Kamera. In gewisser Weise seien The Listeners ihre direkteste Antwort auf das, was in Amerika gerade vor sich geht, sagt Mazzoli und zerknüllt ihren Kaffeebecher.

Da gebe es die Figur Howard, der als charismatischer Guru einer Selbsthilfegruppe die Verletzlichkeit der Menschen ausnutzt, um sein Ego aufzupolieren. Er sei keine Trump-Adaption für die Bühne, zeige aber dessen narzisstische Machtmechanismen. Ins Zentrum der an den Rand gedrängten „listener“ setzt Mazzoli die Lehrerin Claire, eine Frau Ende 40, die ihr Potenzial erst entdeckt, als sie alle bürgerlichen Strukturen hinter sich lässt und nicht nur ihren Job an den Nagel hängt, sondern auch Mann und Tochter verlässt, um die neue Führung einer zweifelhaften Gruppe zu übernehmen.

Ein neuer, durchaus verstörender Heldinnen-Typus, angelegt zwischen Medea und Kassandra, die Nicole Heaston als Claire mit allen Nuancen, die die komplexe Figur erfordert, verkörpert: mit warmem glänzenden Timbre ebenso wie mit hysterischem Furor. Gestützt von Enrique Mazzolas mitreißendem Dirigat, der jeden Bruch, jeden Taktwechsel der komplexen Partitur präzise verinnerlicht und doch in großen dramatischen Bögen denkt.

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Mehr Sichtbarkeit für Komponistinnen schaffen

Und auch Partitur und Libretto spielen mit Widersprüchlichkeiten, dem Lamento des Verismo und dem harschen Vorstadtslang des Südwestens, vielleicht ein bisschen zu vorhersehbar, wenn auf die Höhepunkte der Phrasen statt „amore“ und „dolore“ verlässlich „fuck“ und „shit“ gesetzt sind. Mazzoli grinst. Eigentlich suche sie nicht die Eindeutigkeit, sondern nach Metaphern, die in ihrer Dynamik zeigen, was die Gesellschaft auf einer großen Skala erschüttere.

Kunst müsse doch genau dort stattfinden, wo ihre Freiheit infrage gestellt wird, sagt Mazzoli, als ich sie nach den Absagen europäischer Kollegen frage, aus Protest gegen die Trump-Erlasse. Sie respektiere jeden, der seine persönlichen Gründe habe. Allerdings wolle sie den Raum, der sich ihr biete, nutzen, um sich künstlerisch kompromisslos auszudrücken, sagt Mazzoli, es sei ihre Form des täglichen Widerstands.

Selbst wenn apokalyptische Zustände über uns hereinbrechen, würde ich einen Ort finden, wo ich umsonst unterrichte. Es ergibt keinen Sinn, Kunst zu schaffen, von der die nächste Generation nicht mehr profitieren kann.

Amerika zu verlassen steht für Mazzoli außer Frage, die auch Komposition am Bard College in New York unterrichtet und Mitgründerin des Luna Composition Lab ist, ein Programm, das jungen weiblichen und nicht genderkonformen Komponistinnen zu mehr Sichtbarkeit verhilft. „Selbst wenn apokalyptische Zustände über uns hereinbrechen“, sagt sie, „dann würde ich einen Ort finden, wo ich umsonst unterrichte. Denn es ergibt keinen Sinn, Kunst zu schaffen, von der die nächste Generation nicht mehr profitieren kann – und ich werde nicht in eine Zeit zurückkehren, in der Frauen nicht an Musikschulen zugelassen waren und nicht-binäre Menschen als unsichtbar galten.“

Und so arbeitet Mazzoli an subversiven Resonanzräumen, an Rettungsstrategien vor dem Diktat der Eindeutigkeit, und erschafft gerade in flirrenden Bedeutungen eine Orientierung nach Freiräumen. Sie entführt Tongeschlechter auf jazzig angehauchten Skalen in die Atonalität oder entzieht klaren Kadenzen vor ihrer Auflösung rasch den Grundton. Mazzoli hinterfragt die Qualität des Vertrauten, wenn ein fremder Ton die Eingängigkeit einer Melodie plötzlich überschattet oder ein Cluster an einer Harmonie kratzt. In diesen Irritationsräumen entfaltet sich die emotionale Kraft ihrer Musik.

Jenseits der Eindeutigkeit

Und während sich auf dem North Wacker Drive an diesem Abend Menschen mit Anti-Trump-Schildern zu ersten „Hands-off“-Demonstrationen versammeln, Senator Cory Booker zu seiner 25 Stunden andauernden Rede in New Jersey ansetzt, pfeift ein scharfer Wind um den Civic Opera Tower, der auf dem alten Stammesgebiet der Illinois steht und im November 1929 nur vier Tage nach dem großen Börsencrash eröffnet wurde.

Drinnen wird die große Bühne der Oper von einem überraschenden Finale erschüttert. Wieder steht Claire vor ihrem Häuschen, doch statt Mann und Tochter tritt nun der Chor der „listeners“ in den Vorgarten. Ein sanftes meditatives Summen schwillt zu einem überwältigenden Beschwörungschor an, der das Publikum aus seinen gepolsterten Sitzen zu Standing Ovations hinreißt. So steht der Klang an sich, die Resonanz der Kunst am Ende dieses Opernabends im Mittelpunkt. Und mit ihr die Möglichkeit, eine selbstbestimmte Aussage jenseits des Mainstreams zu treffen. Mazzolis Stück bietet dafür genaue Anweisungen: Vielstimmigkeit und Dissonanzen aushalten, um die Wahrheit jenseits der Eindeutigkeit zu hören.

Antonia Munding hat klassischen Gesang und Musikwissenschaft studiert und ist als freie Autorin tätig

Antonia Munding hat klassischen Gesang und Musikwissenschaft studiert und ist als freie Autorin tätig