Pimp den Ozean: Extra Geo-Engineering-Projekte im Meer
Im Zeitalter des Klimawandels denken bei arktischem Eis viele von uns wahrscheinlich unweigerlich an Erwärmung. Nicht so die Gründer von „Arctic Ice“: Das Start-Up klaubt Eisblöcke, die sich vom Grönländischen Eisschild gelöst haben, aus dem Wasser und verschifft sie in die Vereinigten Arabischen Emirate, wo sie als Würfel für kühle Drinks sorgen sollen.
Die Emissionen des Transports über tausende von Kilometern in gekühlten Containern plant das junge Unternehmen künftig zu kompensieren – indem Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre gesaugt und unterirdisch eingelagert wird. Und nicht nur das: „Wir zielen darauf ab, doppelt so viel CO2 auszugleichen, wie wir emittieren,“, sagt „Arctic Ice“.
Anders gesagt: Das grönländische Start-up wird sehr viel Energie aufwenden, um Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre zu ziehen, das dort nicht wäre, wenn man auf ein überflüssiges Produkt verzichtete. Das könnte man als versponnene Geschäftsidee abtun – wäre es nicht eine Parabel auf die weltweite Klimapolitik. Die Menschheit hätte genug Zeit gehabt, ihre Emissionen so weit zu reduzieren, dass die Erderwärmung 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter nicht überschreitet. Diese Gelegenheit hat sie verstreichen lassen, und so wird es inzwischen laut internationalem Klimarat IPCC notwendig sein, der Atmosphäre CO2 zu entziehen, wenn man die Erwärmung überhaupt noch auf zwei Grad beschränken will. Dafür müssten in den nächsten 75 Jahren 100 bis 1.000 Gigatonnen CO2 aus der Atmosphäre gezogen werden. Zur Einordnung: Aktuell emittiert etwa die EU jährlich 3,5 Gigatonnen CO2-Äquivalente.
Und wer soll’s richten? Die Ozeane. Diese unendlichen Weiten und Tiefen, die schon heute ein Viertel aller menschengemachten CO2-Emissionen aus der Atmosphäre in sich aufnehmen. Weshalb die „Erderwärmung“ eigentlich zu 90 Prozent eine Meereserwärmung ist. Die Weltmeere selbst sind im Hitzestress. 2023 war ein Jahr alarmierender Rekorde: Die Gletscher haben mehr Eis verloren als in jedem anderen Jahr seit 1950, die maximale Ausdehnung des antarktischen Meereises blieb eine Million Quadratkilometer hinter dem letzten Negativrekord zurück, und seit April 2023 ist die Meeresoberflächentemperatur durchweg höher als je zuvor. Das wärmere Wasser an der Oberfläche schwächt die Durchmischung ab – nährstoffreiches Wasser der Tiefsee gelangt so schlechter an die Oberfläche, das beeinflusst das Netz aus Nahrungsketten, das die Meere durchzieht. Wärmeres Wasser kann auch weniger Sauerstoff aufnehmen, der für viele Organismen lebensnotwendig ist.
Dennoch, so lautet scheinbar die Maxime, ist Kohlenstoffdioxid im Wasser das kleinere Übel als in der Luft. Wie man allerdings solch gigantische Mengen des Treibhausgases aus der Atmosphäre ziehen soll, das – so drückt es der IPCC diplomatisch aus – unterliege „vielfältigen Einschränkungen bezüglich Machbarkeit und Nachhaltigkeit“. Lili Fuhr, die den Bereich fossile Wirtschaft beim US-amerikanischen Center for International Environmental Law leitet, formuliert es direkter: „Es ist absolut spekulativ und unsicher, ob wir überhaupt große Mengen CO2 aus der Atmosphäre entnehmen und dauerhaft speichern können.“ Sie hält solche Technologien des Climate oder Geoengineerings für „eine total fehlgeleitete Richtung in der Klimapolitik“. Die Sorge: Je machbarer es erscheint, der Atmosphäre CO2 zu entziehen, desto weniger Mühe wird sich die Menschheit geben, ihre Emissionen zu mindern. Fuhr fürchtet, dass die fossile Industrie ein weiteres Mal Augenwischerei betreibt: Heute sei nicht mehr der Klimawandel selbst strittig, sondern wie ihm zu begegnen ist. Negative Emissionstechnologien, auf Englisch Carbon Dioxide Removal (CDR), könnten eine riesige Industrie werden: Die EU plant, handelbare Zertifikate für entnommenes CO2 zu vergeben. Hier könnte sich ein Markt ähnlich wie bei den Kompensationszertifikaten entwickeln, die man etwa für Flüge kaufen kann.
Zur Diskussion steht nicht nur, ob man überhaupt CO2 aus der Atmosphäre entfernen will, sondern bei welchen Emissionen das gerechtfertigt ist. Beim IPCC ist von „schwer vermeidbaren Restemissionen“ die Rede. Welche das sind, muss politisch festgelegt werden. Darunter könnten einerseits Lachgas- und Methanemissionen fallen, die vor allem von der Landwirtschaft verursacht werden, etwa beim Reisanbau, bei der Viehhaltung und als Folge von stickstoffhaltigem Dünger. Andererseits stehen aber auch CO2-Emissionen zur Debatte, die entstehen, wenn Kalkstein für die Zementherstellung entsäuert wird. Geht man davon aus, dass ein Rest solcher Emissionen bleiben wird, muss an anderer Stelle CO2 entnommen werden, um bei netto null Treibhausgasen zu landen. Doch wenn die Verfahren dazu erst einmal machbar erscheinen, könnten sie Begehrlichkeiten wecken. Nach dem Motto: Weiter wie bisher, wir holen das CO2 ja einfach wieder aus der Luft. Nur: Einfach ist an diesen kühnen Ideen nichts, das zeigen die folgenden fünf Beispiele.
Berge versetzen – künstliche Verwitterung
Der Ozean ist sowieso schon ein gigantischer Kohlenstoffspeicher – mit etwa 40.000 Milliarden Tonnen enthält er mehr als 50-mal so viel wie die Atmosphäre. Das meiste davon ist im Meerwasser gelöst. Um die Aufnahme zu beschleunigen, gibt es drei Wege – den physikalischen, biologischen und chemischen.
Physikalisch, das ist CCS, Carbon Capture and Storage, das unterirdische Speichern von CO2. Biologisch, das meint Düngen und Aufforsten: Man versucht, die Fotosyntheseleistung von Pflanzen und Algen zu erhöhen, sodass mehr CO2 in organischen Verbindungen fixiert wird. An Land funktioniert das mit der Wiedervernässung von Mooren, an der Küste etwa mit Mangroven, im offenen Meer mit Algen. Nachhelfen könnte man beispielsweise mit Eisendüngung – die Staaten der Biodiversitätskonvention CBD haben darüber allerdings schon vor Jahren ein Moratorium verhängt – oder künstlichem Tiefenauftrieb, bei dem man das nährstoffreiche Wasser aus tieferen Ozeanschichten nach oben pumpt.
„Das Potenzial ist allerdings begrenzt“, sagt Andreas Oschlies vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel über diese biologischen Methoden – weniger als ein Viertel seiner Restemissionen könnte Deutschland auf diese Weise ausgleichen. „Wir müssen es machen, aber das allein wird uns nicht retten.“ Oschlies setzt deshalb auf das chemische Verfahren der künstlichen Verwitterung. Gestein verwittert in der Natur ständig, wenn es mit Wasser und CO2 aus der Luft reagiert. Letzteres wird dabei zu klimatisch unwirksamem Carbonat. So neutralisiert das Erdsystem seit Urzeiten CO2, etwa von Vulkanausbrüchen. Künstliche Verwitterung macht sich dieses Prinzip zunutze und setzt Kalk – oder sehr fein vermahlenes Calcium- oder Magnesiumhydroxid ein, um CO2 zu binden.
Kai Schulz erforscht mit seinem Team, was mit dem Ozean passiert, wenn man dieses Verfahren im Meer anwendet. Zwölf riesige mit Wasser gefüllte Plastikbeutel – sogenannte Mesokosmen – sind an einem Ponton vor dem Geomar-Aquarium installiert: 3,5 Meter hoch, mit Meerwasser gefüllt und an einem Gestell im Ozean – in diesem Fall in der Kieler Förde – schwebend.
Schulz experimentiert mit unterschiedlichen Mahlgraden und Konzentrationen. Je kleiner die Teilchen sind – man bewegt sich in der Größenordnung von 60 Mikrometern –, desto mehr Oberfläche gibt es, die verwittern kann, und desto langsamer schweben die Partikel hinab. Der CO2-Gehalt sinkt vorübergehend, und neues CO2 kann aus der Atmosphäre aufgenommen werden.
Um auf diese Weise eine Tonne CO2 aus der Atmosphäre zu binden, bräuchte man bis zu drei Tonnen Gestein, sagt Andreas Oschlies: „Es werden ganze Berge abgebaut werden müssen.“ Die Dimensionen bewegten sich etwa im Bereich des heutigen Kohleabbaus. So könne dieser Industriezweig möglicherweise sogar umgenutzt werden. „Dieses großskalige Eingreifen ins Erdsystem, das wollte mir eigentlich nicht in den Kopf“, sagt Kai Schulz. „Man hat auf der einen Seite eine riesige Petrochemie-Industrie, die Gigatonnen von CO2 erzeugt – und dann baut man noch mal eine Gigatonnenindustrie auf, die das ausgleichen soll.“ Mittlerweile hat er seine Meinung geändert, sagt er. Denn: „Wir kommen von diesen Emissionen nicht schnell genug runter.“
Aus der Luft gegriffen – CCS
Das unterirdische Deponieren von Kohlenstoffdioxid ist die am besten erforschte Technologie im Bereich Climate Engineering. Als Speicher nutzt man poröse Gesteine wie Sandstein und Basalt unter dem Meeresboden, die nach oben durch Ton- oder Salzstein abgedichtet sind. Per Schiff oder Pipeline transportiert man das Gas zu seinem Bestimmungsort und leitet es ins Gestein. Dort löst sich das CO2 in dem Salzwasser, das die Poren füllt, später reagiert es mit den Mineralien des Gesteins zu Carbonaten, wird also selbst zu Gestein. Im Basalt kann dieser Prozess schon nach ein bis zwei Jahren abgeschlossen sein, im Sandstein dauert er Jahrhunderte bis Jahrtausende. So lange müsste man die Lagerstätten überwachen.
Sandstein ist derzeit dennoch die praktikablere Variante, weil man hier ehemalige fossile Lagerstätten und ihre Infrastruktur nutzen könnte. Basaltformationen findet man vor allem in der Mitte der Ozeane, weit entfernt vom Land. Je energieaufwendiger der CO2-Transport zur Lagerstätte, desto schlechter deren Bilanz.
Überhaupt stellt sich bei der Einlagerung die Frage: Woher nehmen? Will man das CO2 tatsächlich der Atmosphäre entziehen, muss man es aus der Luft ziehen. Direct Air Capture, kurz DAC, nennt man das. Das ist technisch bereits möglich, es verbraucht aber enorm viel Energie: Um zehn Gigatonnen CO2 pro Jahr aus der Atmosphäre zu ziehen, bräuchte man 100 Exajoule, also 100 Trillionen Joule. Das entspricht der jährlichen Stromerzeugung der gesamten Menschheit.
Eine andere Möglichkeit ist, das Gas direkt an Schornsteinen der Industrie abzufangen – was dann allerdings Emissionsvermeidung wäre und keine Entnahme. So wird es in Norwegen gemacht, in den bisher einzigen marinen CCS-Anlagen industriellen Maßstabs. Seit knapp 30 Jahren wird auf diese Weise in der Nordsee und seit rund 15 Jahren in der Barentssee CO2 verpresst.
Diese Projekte seien „keine Erfolgsgeschichten, sondern vielmehr abschreckende Beispiele“, schreibt das Center for International Environmental Law in einem Bericht. Das eingeleitete Gas sei unerwartet in höhere Gesteinsschichten aufgestiegen und es habe weniger hineingepasst als vorher geschätzt. Pro Jahr werden insgesamt etwa anderthalb Millionen Tonnen CO2 in beiden Projekten eingelagert – ein Bruchteil der norwegischen Emissionen (knapp 41 Millionen Tonnen). Immerhin: Das Gas bleibt, wo es ist. Das wurde im Rahmen des Forschungsprojekts ECO2 untersucht, an dem sämtliche großen europäischen Meeresforschungsinstitute beteiligt waren.
Um dennoch herauszufinden, welche Folgen ein Leck hätte, setzte man bei einem Versuch in der Nähe des Speichers CO2 am Nordseeboden frei. Es löste sich als Kohlensäure auf, das Bodenwasser in ein bis zwei Meter Höhe versauerte in einem Bereich „so klein wie eine Zweizimmerwohnung“, sagt Klaus Wallmann, der das Projekt geleitet hat. Dieser Bereich wäre für viele Organismen unbewohnbar. Die Erforschung möglicher CCS-Standorte ist sehr aufwendig, sagt Wallmann. Viele Probebohrungen, aufwendige 3-D-Modelle des Untergrunds – und dann weiß man doch nur, ob CCS prinzipiell funktionieren könnte. „Genau gucken muss dann die Industrie. Die muss erst mal viel investieren, Pipelines bauen, und dann gibt es immer ein Restrisiko, dass es doch nicht funktioniert.“
„Wir bauen unsere industrielle Zukunft in Europa gerade auf dieses Kartenhaus – indem wir massive Subventionen an die Industrie verteilen, die das Problem geschaffen hat. Das ist total pervers“, sagt Lili Fuhr vom Center for International Environmental Law. Die EU-Kommission plant, schon 2030 die Atmosphäre jährlich um mindestens 50 Millionen Tonnen CO2 durch CCS zu erleichtern – bis 2050 sollen es 450 Millionen sein. Das wären knapp 13 Prozent der CO2-Emissionen, die momentan jährlich in der EU anfallen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) stellte kürzlich Eckpunkte einer Carbon-Management-Strategie vor. Es soll rechtlich möglich werden, CO2 im Meeresboden zu lagern und Pipelines im Land zu verlegen – auch weil Deutschland für seine Nachbarn ein wichtiges „Transitland“ sei. Finanziell gefördert werden soll CCS nur für – bisher nicht definierte – „schwer oder nicht vermeidbare“ Emissionen. Ausdrücklich ausgeschlossen für den Pipelinetransport hat Habeck nur Emissionen aus Kohlekraft.
Total verstrahlt: Marine Cloud Brightening
Die Erderwärmung rührt ja daher, dass Sonnenstrahlung, von der Erde reflektiert, von Treibhausgasen absorbiert wird. Wäre es da nicht ein cleverer Ansatz, die einfallende Sonnenstrahlung zu verringern? Für Andreas Oschlies vom Geomar ist das bloße Symptombekämpfung. „Das ist eine komplett andere Herangehensweise als die Ursachenbekämpfung, das CO2 aus der Atmosphäre rauszubekommen“, sagt er. Bei solarem Geoengineering geht es darum, die Sonnenstrahlung entweder schon außerhalb der Erdatmosphäre abzulenken oder den Anteil zu erhöhen, der von der Erdoberfläche reflektiert wird: etwa durch Spiegel im Weltraum, reflektierende Partikel in der Stratosphäre oder eine Erhöhung der Albedo der Erde, also ihres Rückstrahlvermögens. Die Meere wären da maßgeblich, weil sie 71 Prozent der Erdoberfläche bedecken. Als dunkle Fläche absorbieren sie viel und reflektieren wenig. Durch das Aufhellen von Wolken über dem Meer könnte man das ändern, so die Idee des Marine Cloud Brightening.
In der Summe kühlen Wolken die Erde, weil sie durch ihre Albedo den Anteil der Sonnenstrahlung erhöhen, der rückgestrahlt wird. Sie stehen zwar auch der Wärmestrahlung im Weg, die die Erde abgibt, und tragen so zum Treibhauseffekt bei – in Summe überwiegt aber die Kühlung. Das liegt insbesondere an den tief hängenden Wolken in den unteren zwei Kilometern der Atmosphäre. Zu denen zählen die Stratokumuluswolken, sie bedecken die Ozeane im Schnitt immer zu knapp einem Viertel. Wie stark eine Wolke reflektiert, hängt von ihrem Wassergehalt und den Tröpfchen ab – je mehr und je kleiner, desto heller die Wolke. Damit die Tröpfchen kondensieren und eine Wolke bilden können, braucht es Kondensationskeime – winzige Partikel, etwa Salz-Aerosole. Marine Cloud Brightening basiert auf diesem Effekt – man möchte zusätzliche Partikel in die Atmosphäre sprühen, die dann vorhandene Wolken aufhellen sollen.
Erste Versuche zum Marine Cloud Brightening wurden vor Australien gestartet – um das Meer beim Great Barrier Reef abzukühlen. Wie sich allerdings ein flächendeckender und dauerhafter Einsatz einer solchen Technologie auf Ökosysteme auswirken könnte, ist nicht erforscht. Der Weltklimarat warnt, dass solares Geoengineering „ein breites Spektrum neuer Risiken für Menschen und Ökosysteme“ mit sich brächte, die man nicht gut verstehe.
Zudem ist Strahlungsmanagement nicht nachhaltig. „Wenn man mit der Technologie anfängt, müsste man das immer weiter machen, für Hunderte von Jahren, ohne Pause“, sagt Lili Fuhr vom Center for International Environmental Law. Denn beendete man den Einsatz, stiege die Temperatur binnen weniger Jahre auf den Wert ohne Strahlungsmanagement. Von mangelndem Wissen über die Technologien abgesehen, sind sie aktuell auch nicht erlaubt. Laut der Biodiversitätskonvention CBD, auf die sich 196 Staaten geeinigt haben, gilt jeder großskalige Versuch, die Sonneneinstrahlung zu reduzieren oder Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen, als Geoengineering, sofern er sich auf die Biodiversität auswirkt. Schon 2008 haben die CBD-Staaten ein Moratorium für Ozeandüngung beschlossen, 2010 ein weiteres für andere Formen marinen Geoengineerings, mit Ausnahme von CCS.
Künstliche Beatmung – Ozeane mit Sauerstoff versetzen
Die Meere leiden nicht nur unter zu viel CO2, sondern auch unter zu wenig Sauerstoff: In den letzten 70 Jahren haben sie zwei Prozent des im Wasser vorhandenen Sauerstoffs verloren – bis 2100 könnten es bis zu vier Prozent sein. Zum einen stabilisiert sich durch das wärmere Oberflächenwasser die Schichtung im Ozean. „Das warme Wasser verschließt den Ozean wie ein Deckel, sodass kein Sauerstoff aus der Atmosphäre hineinkann“, sagt die Ozeanografin Mathilde Jutras von der Universität Hawaii in Manoa. Zum anderen sorgt Überdüngung dafür, dass an den Küsten viele Nährstoffe ins Meer gespült werden, die zu Algenblüten und in der Folge zu hohem Sauerstoffverbrauch im Wasser führen.
Eine Region, in der beide Faktoren zusammenkommen, ist der Sankt-Lorenz-Golf im Osten Kanadas. Kanada und Deutschland planen hier eine Anlage für Wasserstoffproduktion, betrieben mit Windenergie – Deutschland würde daraus Wasserstoff beziehen. „Wasserstoffwerke werden an den Küsten gebaut werden, wegen der Energie und der Transportmöglichkeiten“, sagt Jutras. „Also hatten wir die Idee, den Sauerstoff in den Ozean zu injizieren.“ Denn bei der Hydrolyse, mit der Wasserstoff gewonnen wird, entsteht Sauerstoff, der sonst in der Atmosphäre landet. Die Menge der Fabrik am Sankt-Lorenz-Golf würde nach Berechnungen von Jutras und ihren KollegInnen mehr als ausreichen, um die Sauerstoffprobleme in der ganzen Meeresbucht zu beheben. An der richtigen Stelle eingeleitet, könnten die Wasserströmungen das Gas in wenigen Jahren flächendeckend verteilen. Doch wie würde man das Gas einleiten? Welche Nebenwirkungen könnte es haben? Es sind noch jede Menge Fragen zu klären. Die Behörden haben den Bau der H2-Fabrik immerhin gerade genehmigt.
Letztes Eis vorm Weltuntergang – Gletscher isolieren
Der Thwaites- und der Pine-Island-Gletscher liegen am Rand des Westantarktischen Eisschilds und fungieren gewissermaßen als Bremsklötze auf dessen Schmelzbahn ins Meer. Die BBC bezeichnete den Thwaites-Gletscher deshalb als „Doomsday Glacier“ – weil er das letzte Eis ist, das noch zwischen der Menschheit und dem Weltuntergang liegt. Wenn der Westantarktische Eisschild schmelzen würde, stiege der Meeresspiegel um fünf Meter. Weil Gletscher nicht nur von der Luft gewärmt werden, sondern auch von dem Wasser an ihrer Unterseite, haben WissenschaftlerInnen der Universitäten von Lappland und Cambridge eine Art Unterwasservorhang entwickelt, um das warme Wasser vom Eis fernzuhalten und den Gletscher zu isolieren – 200 Meter hoch, 100 Kilometer breit. Er wäre nicht unbedingt aus Stoff oder Plastik, man könnte auch Schläuche auf dem Meeresboden befestigen, aus denen Luftbläschen sprudeln. Die Erforschung der Idee steht allerdings noch am Anfang.
Erinnern Sie sich noch an Arctic Ice, das grönländische Start-up vom Anfang dieses Textes, das aus Gletscherblöcken Eiswürfel macht? Die daraus entstehenden Eiswürfel dienen nicht nur dazu, Cocktails in Dubai oder Doha zu kühlen. Nein, sie könnten auch verhindern, dass der Klimawandel küstennahe Landstriche in Mitleidenschaft zieht. Behaupten zumindest seine Erfinder: „Wir sammeln Eis ein, das andernfalls im Ozean schmelzen würde. So verhindern wir, dass es zum Anstieg des Meeresspiegels beiträgt.“ Nun ja – das ist eine Frage des Maßstabs. Bei einem Volumen von etwa 33 Kubikzentimetern pro Eiswürfel müsste man verdammt viele Cocktails schlürfen, um den Meeresspiegelanstieg zu verhindern. Der Grönländische Eisschild umfasst immerhin 2,6 Millionen Kubikkilometer.
Blue New Deal
Die Serie „Blue New Deal“ ist ein Projekt von drei freien ReporterInnen – Svenja Beller, Julia Lauter und Martin Theis – und einem Fotografen, Fabian Weiss. Im Freitag suchen sie während eines Jahres nach Lösungen, die sowohl die Ozeane schützen als auch deren Potenzial nutzen, die Erderwärmung zu stoppen. Das Projekt wird vom European Journalism Centre (EJC) über den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt. Alle Reisen werden kompensiert
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