Philosophie heute: Zu sexy geworden? – WELT

Am 11. Juni treffen sich in Köln zum zwölften Mal Philosophen aus der ganzen Welt. Eine Woche lang diskutieren sie auf dem Publikumsfestival Phil.Cologne darüber, wie man „sich in einer herausfordernden Wirklichkeit orientieren“ kann. Von Zeitaktuellem wie dem 7. Oktober 2023 und Kants 300. Geburtstag über Modethemen wie „toxische Weiblichkeit“ und „Triggerpunkte“ bis zur zeitlosesten aller Fragen, der nach dem Sinn des Lebens, grasen Denkerinnen und Denker ein weites Terrain ab.

Und weil dieses Mammutprogramm offenbar noch nicht genügt, zieht die Hauptstadt nach und gründet ihr eigenes, der Liebe zur Weisheit gewidmetes Festival: „Philo.live!“ versammelt Ende Juni im Berliner Kulturquartier Silent Green, einem ehemaligen Krematorium, unter der Leitfrage „Was heißt hier Freiheit?“ ähnlich illustre Namen wie das Kölner Original.

Der Philosophie geht es wieder gut – zumindest in ihrer populären Form, die in jüngster Zeit einen echten Boom erlebt, in Distanz zur akademischen Forschung und lebenspraktisch ausgerichtet. Das Bedürfnis nach Orientierung und Sinnstiftung scheint, seit der Corona-Ausnahmezustand mit seinen sozialen und psychischen Härten beendet wurde, ein geradezu exponenzielles Wachstum zu erleben. Und die Menschen trauen der Philosophie offensichtlich eher zu, dieses posttraumatische Sinnvakuum zu füllen als den Naturwissenschaften.

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In der Pandemie selbst, geprägt von strengen Regeln und engen Meinungskorridoren, sah das noch ganz anders aus: Damals wurden Populärphilosophen wie der Bestsellerautor Richard David Precht oder die Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“ Svenja Flaßpöhler, die sich skeptisch zum Umgang mit dem Virus äußerten, oft als „Schwurbler“ abgetan. Der Philosoph tauchte in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als differenzierter Denker und dem Alltag enthobener Weiser auf, sondern als Schwafler und Laberer, der nicht zum Punkt komme, Fakten verdrehe und sich quer zur von den Naturwissenschaften definierten Realität stelle. Precht musste, als er dann auch noch im ZDF-Podcast „Lanz & Precht“ Vorurteile über das orthodoxe Judentum reproduzierte, sogar von seiner Honorarprofessur an der Leuphana-Universität Lüneburg zurücktreten.

Diese temporäre Krise der populären Philosophie ging – zumindest teilweise – mit ihrer medialen Marginalisierung einher: 2023 wurde die Philosophie-Zeitschrift „Hohe Luft“ eingestellt. Ebenso die von Ronja von Rönne sechs Jahre lang komoderierte Arte-Sendung „Street Philosophy“, in der die Millennial-Autorin in stilvollem Schwarz-Weiß coole Berliner zu lebensweltlichen Themen wie Angst, Faulheit und Humor sokratisch befragte. Das ebenfalls von Rönne moderierte Nachfolgeformat „Unhappy“ hat die Philosophie aus dem Titel verbannt und gibt sich insgesamt fachfremder als der Vorgänger. Statt „die wirklich wichtigen Fragen (…) vom Denkerstübchen raus auf die Straßen von Kreuzberg und Neukölln“ zu bringen, wie es „Street Philosophy“ wollte, scheint ein Spagat zwischen Elfenbeinturm und Marktplatz hier gar nicht mehr nötig, da die Philosophie, so die implizite Behauptung, sowieso überall steckt, auf der Pferderanch, in der Designerwohnung, in der Sauerstoffkammer.

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Quelle: picture alliance/dpa/Horst Galuschka

Das aktuelle Comeback der Philosophie ist also verbunden mit einer Erweiterung, vielleicht sogar einer Auflösung des Begriffs. Denn wenn die Philosophie den Elfenbeinturm verlässt und plötzlich überall und jedem zugänglich ist, wenn sie identisch wird mit der Lebenswelt, ist sie dann noch irgendwo richtig da? Was bedeutet sie dann noch? Der akademischen, besonders aus der analytischen Philosophie bekannten Tendenz, einzelne Fachbereiche immer weiter auszudifferenzieren und sich in komplizierte Spezialfragen zu verstricken, begegnet die heute eher in Populärmedien anzutreffende Kontinentalphilosophie mit der Forderung, die Disziplin verständlicher, praktikabler und alltagstauglicher zu machen. Kann der Versuch gelingen, philosophisches Denken auf diese Weise wieder mit Relevanz zu versehen – und der Psychologie, die in der Nachfolge der Theologie alle Lebensbereiche vereinnahmt und unter sich begräbt, etwas entgegenzusetzen?

Lebenshilfe und Alltagstherapie

Mit der Popularisierung einher geht die Kritik einer Verwässerung der Disziplin, die sich zunehmend von der Universität entfernt und irgendwann nicht mehr ernstzunehmen sei: Philosophie light. So wie „Coach“ ist schließlich auch „Philosoph“ in Deutschland kein geschützter Begriff. Setzt die Eule der Minerva im Tageslicht zum Blindflug an? Oder kann sie es sich in der heutigen Arbeitswelt schlichtweg nicht mehr leisten, tagsüber ein Nickerchen zu halten, um Energien für die Nacht zu tanken?

Ronja von Rönne, Moderatorin von „Unhappy“
Ronja von Rönne, Moderatorin von „Unhappy“
Quelle: picture alliance/dpa/Fabian Sommer

An der Universität Bern plant Omar Ibrahim einen neuen Studiengang namens „Philosophical Care“ – Philosophie als Fürsorge. Als Lebenshilfe könne sie im Spital, Gefängnis oder Asylheim zum Einsatz kommen. Wenn der Doktorand im SRF auf die Anwendbarkeit philosophischen Denkens pocht („Philosophie ist mehr als Worte. Sie könnte auch bedeuten, einer sterbenden Person die Hand zu halten“), erinnert das an Karl Marx’ berühmtes Diktum, das über der Marmortreppe der Humboldt-Universität zu Berlin prangt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Das hatte wohl auch das philosophische Institut der Humboldt-Uni im Sinn, als es jetzt die Abschaffung des Lehrstuhl-Prinzips zugunsten einer Department-Form, wie man sie aus den USA kennt, ankündigte. Die verknöcherten Strukturen des akademischen Arbeitsmarkts sollen aufgebrochen und in modernere, international konkurrenzfähige Ordnungen überführt werden.

Doch wie passt es zusammen, dass die Philosophie als Lebenshilfe und Alltagspraxis proliferiert, während kritische Denker in der allgemeinen Debatte immer schneller der Fehltritte überführt und aussortiert werden? Womöglich ist Ersteres eine Folge von Letzterem. Wer sich ständig zu allen Themen der Gegenwart äußert wie Richard David Precht, der muss früher oder später auf einer undurchdachten Aussage ausrutschen. Auch Judith Butler, einer der letzten großen Philosophiestars mit eigenem Denkgebäude, von dem man sagen könnte, er habe unser Leben maßgeblich geprägt, hat sich mit Hamas-Sympathien ins Aus befördert. Wo in der Antike das Vorurteil dominierte, Philosophen wie Thales würden vor lauter Hinaufschauen in den Ideenhimmel irgendwann in einen Brunnen fallen, stolpern die heutigen Denker über das Tagesgeschäft vor ihren Füßen.

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Ist nach Peter Singer, Jürgen Habermas, Judith Butler und der Frankfurter Schule in der akademischen Philosophie überhaupt noch viel Relevantes passiert, das auf die Lebenswirklichkeit abstrahlt? Kaum jemand entwirft noch ambitionierte Denkgebäude, die aus dem profanen Getümmel der Aktualität herausragen. Verliert sich die deutsche Philosophie in der Nachfolge Kants und Hegels – die dieses und letztes Jahr Jubiläum feierten – also im Kleinklein? Was ist mit der Demokratisierung des Philosophentums gewonnen – und was verloren?

Richard David Precht stand schon oft in der Kritik
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Quelle: picture alliance/SvenSimon/Frank Hoermann

Bei aller Vielfalt scheinen die Rollen in Deutschland oft klar verteilt, zumindest in der medial sichtbaren Philosophie: Richard David Precht erklärt, Svenja Flaßpöhler hinterfragt, Byung-Chul Han verzaubert, Markus Gabriel debattiert, Slavoj Žižek provoziert. Sie alle prägen Debatten. Vielleicht findet die transzendental obdachlos gewordene Philosophie, auch ohne schützendes Theoriegroßbauwerk, wieder zu ihrer Rolle als Königsdisziplin zum Verstehen unserer Welt zurück?

Das Denken findet auf Festivals statt, im Fernsehen („Sternstunde Philosophie“), in Podcasts („Sein und Streit“, „Philosophisches Radio“), im Kino („Seneca“, „Saint Omer“) – und in der Literatur sowieso. Unterhaltsam aufgeschriebene Philosophiegeschichten von Richard David Precht, Sarah Bakewell und Wolfram Eilenberger stürmen seit Jahren die Bestsellerlisten. Selbst die Influencerin Bianca „Bibi“ Heinicke empfiehlt nach einer Rundum-Transformation ihren acht Millionen Instagram-Followern nicht mehr Gesichtscremes und Limos, sondern philosophische Lektüren. In den vergangenen Monaten hat sie Schopenhauer, Buddha und Heinz von Foerster zitiert.

Der Philosoph als politischer Berater

Ist also die Philosophie in ihrer lebensweltlichen Form sexy geworden? Vielleicht sogar zu sexy? Diesen Vorwurf zog sich zuletzt das New Institute in Hamburg zu, wo Silicon-Valley-Schick auf Altbau-Villen-Charme trifft. Das vom Mäzen Erck Rickmers erworbene Warburg-Ensemble an der Außenalster versammelt seit 2020 renommierte Geisteswissenschaftler aus aller Welt. Geleitet wird es von zwei Philosophen – dem Bonner „Neuen Realisten“ Markus Gabriel und der an der New School of Social Research promovierten Hegelianerin Anna Katsman. Neben hochkarätigen Professoren finden sich unter den Stipendiaten aktivistische Autoren wie Luisa Neubauer und Kübra Gümüşay.

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Die „FAZ“ machte ihrer Skepsis gegenüber dem Institut Luft, indem sie auf das Fehlen von dort entstandenen längeren Publikationen verwies. Die Denkfabrik schreibt sich das freie, kollaborative und interdisziplinäre Arbeiten auf die Fahnen. Markus Gabriel etwa macht keinen Hehl daraus, dass er weltweit Politiker in Regierungsfragen berät. So wie schon Seneca, dessen Einflussmöglichkeiten und Grenzen als philosophischer Berater Neros der 2023 erschienene Film „Seneca“ mit John Malkovich auslotet. Auch Prechts neues Buch „Das Jahrhundert der Toleranz: Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik“ wagt sich ins realpolitische Gefecht.

Die lebenspraktisch orientierte Philosophie birgt sicher manche Gefahr, ins zu Allzupopuläre, vielleicht sogar Banale abzurutschen. In jedem Fall aber fordert sie die akademische Philosophie heraus, wenn es um das geht, was Philosophie konkret sein will: ein Weg zur Weisheit.

Source: welt.de