Papier von Christian Lindner: Die Koalitionswende
Es ist ein harter, geradezu brutaler Aufschlag, den Finanzminister Christian Lindner zur wirtschaftlichen Lage des Landes zu Papier gebracht hat. Knapp zwei Wochen, bevor der zuständige Bundestagsausschuss nach dem Zeitplan der Koalition den letzten Ampel-Haushalt festzurren sollte, widerspricht der FDP-Vorsitzende letztlich allem, wofür SPD und Grüne in der Wirtschaftspolitik stehen. Er fordert eine Abkehr von überehrgeizigen Klimazielen und ein Zurückdrängen des Sozialstaats. Das sei notwendig, um die Wachstumskräfte in Deutschland zu beleben und den Staat auf längere Sicht handlungsfähig zu halten.
Tatsächlich sind Reformen dringend geboten. Der Steuerstandort ist schon lange nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Sozialversicherungen entfalten eine fatale Kostendynamik. Eine hohe Abgabenlast macht Teilzeit attraktiv. In Kombination mit einer alternden Bevölkerung ist das eine gefährliche Mischung. Daher hat der Finanzminister recht: Deutschland braucht Reformen, die Investitionen und Arbeit attraktiver machen. Angebotspolitik nennt man das. Darauf dringt Lindner. Und das ist gut so: Was er vorschlägt, würde das Land voranbringen. Aber warum jetzt?
Ein unangenehmer Beigeschmack bleibt
Lindner zeigt auf den Wirtschaftsminister von den Grünen. Kollege Habeck habe vergangene Woche seine Vorschläge zur Bewältigung der Herausforderungen inklusive eines kreditfinanzierten Sondervermögens öffentlich gemacht. Er schlage eine alternative Richtungsentscheidung vor, schrieb er seinen Parteifreunden.
Auch wenn man Lindners Analyse grundsätzlich zustimmen muss, bleibt ein unangenehmer Beigeschmack. Denn drei Jahre hat der FDP-Chef bei vielem mitgemacht, was er nun scharf kritisiert. Er hat als Finanzminister tatkräftig daran mitgewirkt, nicht benötigte Corona-Kredite der Vorgängerregierung in beträchtlicher Höhe in den Klimafonds zu schieben – den er nun auflösen will.
Bedenken, dass dieses Ampel-Handeln gegen zentrale Haushaltsgrundsätze verstößt, wischte er seinerzeit wie die anderen Koalitionäre nonchalant beiseite. Die Milliarden waren als Schmiermittel für den Dreierbund einfach unverzichtbar. Erst das Bundesverfassungsgericht stoppte die Ampel vor einem Jahr und stürzte die Koalition in eine tiefe Krise, die bis heute währt. Lindner machte zudem lange die Subventionsorgie für Intel und Co mit. Und er unterstützte bis zuletzt das Rentenpaket II, obwohl dies mittelfristig sowohl den Sozialbeitrag als auch den Bundeszuschuss kräftig steigen lässt.
Noch zieht Lindner nicht die Notbremse
Durch eine „Indiskretion“, so Lindner, ist jetzt bekannt geworden, was nach seinen Worten zunächst im engsten Kreis der Bundesregierung beraten werden sollte. Das Durchstechen des brisanten Papiers wirft für sich schon ein schlechtes Licht auf den Zustand der Koalition. Noch wichtiger ist der tiefe inhaltliche Riss, der damit offen zutage liegt. Wie will die Regierung vorwärts kommen, wenn die Partner in entgegengesetzte Richtungen streben? Lindner arbeitet die unterschiedlichen Vorstellungen zwischen SPD, Grünen und FDP schonungslos heraus.
Er stemmt sich nunmehr gegen die Subventionsorgie im Dienste der Transformation. Er positioniert sich damit nicht nur gegen den Grünen im Wirtschaftsministerium, sondern auch gegen seinen Regierungschef. Schließlich ist es Scholz gewesen, der mit zweistelligen Milliardenbeträgen einzelne Unternehmen wie den Chip-Hersteller Intel nach Deutschland locken wollte. Letztlich sind die 18 FDP-Seiten eine einzige unausgesprochene Wiederholung von Lindners Diktum von 2017: Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Die Notbremse zieht der FDP-Vorsitzende anders als vor sieben Jahren (noch) nicht. Wie reagiert der Kanzler auf die Provokation?