Organizing | Revolution in Mulfingen
Bei einem Motorenhersteller in Baden-Württemberg kommt das Aufbegehren der Beschäftigten endlich in der Industrie an
Freitagmittag, in Mulfingen, nicht weit von Schwäbisch Hall. Zwischen Rinderweiden und Streuobstwiesen steht hier im Nordosten Baden-Württembergs die Unternehmenszentrale von EBM Papst. Gut 3.800 Leute arbeiten bei dem Ventilatoren- und Motorenhersteller im Hohenloher Land – deutlich mehr, als Mulfingen selbst Einwohner hat. Gleich ist Schichtwechsel, Leute stellen ihre Autos ab. Einige zücken ihre Telefone, ein neues Video macht die Runde, verbreitet über den Telegram-Kanal der IG Metall. „Am Freitag wird abgerechnet“, so der Titel. Was folgt, ist deftiger Agitprop. Manager schütteln sich die Hände, weil ihre Mitarbeiter „diese Woche wieder 1,5 Stunden umsonst gearbeitet haben“. Dann der Abspann: „Gehaltsklau stoppen! Nachzahlungen für alle.“
Der Ton wird forscher
Der forsche Ton lässt aufhorchen. Zwar macht schon seit mehreren Jahren eine neue Arbeiter*innenbewegung von sich reden. Doch spielte das Aufbegehren der Beschäftigten bislang vor allem im Dienstleistungssektor eine Rolle: etwa unter den Pflegekräften an der Berliner Charité, die erfolgreich für mehr Personal auf den Stationen streikten. Unter Kita-Beschäftigten, die derzeit auf die Straße gehen. Oder in den Warenlagern des Onlineriesen Amazon, in denen sich nach jahrelangen zähen Arbeitskämpfen in Europa nun auch in den USA die Beschäftigten organisieren. Selbst der digitale Plattformkapitalismus ist keine gewerkschaftsfreie Zone mehr, wie die Kämpfe der Belegschaft beim Lieferdienst Gorillas in Berlin zeigen. Die Industriearbeiterschaft hingegen schien, abgesehen von Abwehrkämpfen wie bei Airbus oder Bosch, in Schockstarre zu verharren. Doch vielleicht beginnt sich genau das gerade zu ändern.
Das Unternehmen, das hier so rotzig angegangen wird, beschäftigt weltweit 15.000 Mitarbeiter. EBM ist Weltmarktführer für Ventilatoren, wie sie in Computern, Klimaanlagen und Autos verbaut werden. Vor ein paar Jahren noch ein mittelständisches Familienunternehmen, ist man inzwischen zum managergeführten Global Player aufgestiegen. Und so richtig versteht man hier noch nicht, wie einem geschieht. „Wir waren immer ein attraktiver Arbeitgeber“, sagt Pressesprecher Hauke Hannig. Nein, man sei nicht tarifgebunden, „aber das sind hier auf dem Land die wenigsten Unternehmen“. Ja, als kurz nach der Jahrtausendwende die Dotcom-Blase platzte und die Erschütterungen auch die PC-Lüfterproduktion tangierten, habe man mit dem Betriebsrat ein „Bündnis für Arbeit“ geschlossen. 18 Minuten am Tag – 1,5 Stunden die Woche – arbeiten die Beschäftigten seither unentgeltlich. Im Gegenzug, so Hannig, zahle EBM Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und verzichte auf betriebsbedingte Kündigungen. „Wir haben eine Firmenkultur“, sagt Hannig, „bei der die Menschlichkeit im Mittelpunkt steht“.
Doch der Frieden in Mulfingen scheint zu bröckeln. Acht Mitarbeiter haben inzwischen vor dem Arbeitsgericht gegen das „Bündnis“ geklagt und wollen Nachzahlungen durchsetzen. Immer mehr Leute sehen nicht ein, warum sie jede Woche anderthalb Stunden unbezahlt arbeiten sollen, während das Unternehmen in einem Wachstumsmarkt ganz vorn mitspielt.
„Früher war EBM ein guter Arbeitgeber“, sagt Ivo, der seit mehreren Jahren bei EBM in der Produktion arbeitet und in Wirklichkeit anders heißt. „Heute geht es nur noch um den Profit.“ Die 18 Minuten „für lau“ jeden Tag sind für ihn nur ein Mosaiksteinchen: digitale Überwachung, ein neues Leistungsvergütungssystem, bei dem es viele Verlierer, aber kaum Gewinner gebe, kurzfristig angekündigte Samstagsarbeit. Häufig laufe es so: „Die halbe Woche haben wir nichts zu tun, weil der Nachschub stockt. Dann kommt donnerstags Material und wir sollen am Samstag arbeiten.“ Natürlich nur die Produktionsarbeiter, nicht die Führungskräfte, deren Job es eigentlich wäre, den Materialnachschub zu organisieren. „Und dann sagen sie uns noch: Wir können am Wochenende nicht arbeiten, wir haben Familie“, sagt Ivo. „Ja was ist denn mit uns? Zählen unsere Familien nicht?“
So wird, wie überall, ein und dieselbe Realität aus entgegengesetzten Blickwinkeln ganz anders beschrieben. Wo der Unternehmenssprecher eine Kultur der Mitmenschlichkeit wahrnimmt, sieht der Produktionsarbeiter Ungerechtigkeit, Mangel an Respekt, Arroganz. Wo die eine Seite gelebte Mitbestimmung sieht („Wir haben einen Betriebsrat“), sieht die andere ein Gremium, das „alles durchwinkt, was ihm die Geschäftsführung vorsetzt“. So zuletzt das neue, bei vielen verhasste Vergütungssystem: „Schnell noch drei Wochen vor der Betriebsratswahl peitschen sie das durch“, sagt Ivo. In solchen Situationen wachsen gefühlte Ohnmacht und Wut.
Die Betriebsratswahl steht an
Die Ohnmacht aber könnte schnell vergehen. Über Jahrzehnte war EBM ein gewerkschaftsfreier Betrieb, der Organisationsgrad lag unter einem Prozent. „Kein einziger der 25 Betriebsräte war bei uns Mitglied“, sagt Uwe Bauer, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Schwäbisch Hall. „Das war ein ‚weißer Fleck‘ auf unserer Landkarte. Aber seit ein paar Monaten rennen die uns die Bude ein. Wie sich das gerade erdrutschartig ändert, das ist eine kleine Revolution.“
Vierzehn Beschäftigte treten als Liste der IG Metall zur Betriebsratswahl Ende März an. Ivo ist optimistisch, dass es nach der Wahl eine neue Mehrheit geben wird. Und dann? „Wir werden das neue Entgeltsystem so schnell wie möglich abschaffen. Unser Ziel ist ein Tarifvertrag mit 35-Stunden-Woche, höheren Löhnen und Gehältern.“ Für EBM wäre das nicht mal völliges Neuland: An anderen, kleineren Standorten in Deutschland bestehen bereits Tarifverträge. Im Zuge der Expansion kaufte der Konzern irgendwann auch mal den einen oder anderen tarifgebundenen Betrieb. Aber anstatt auch die Zentrale in die Tarifbindung zu überführen, gab es ein Zweiklassensystem. Das rächt sich nun.
Ist die „kleine Revolution“ in Mulfingen ein isoliertes Ereignis? Oder kündigt sich hier ein Trend an? Arbeitsmarktexperten sind sich jedenfalls einig: Arbeitgeber müssen sich heute mehr denn je bemühen, um Mitarbeiter zu halten. Jahr für Jahr wächst die Nachfragelücke. Dabei geht es nicht nur um Hochqualifizierte: „Unternehmen suchen nicht nur Ingenieurinnen und Programmierer, sondern auch Menschen mit geringen Qualifikationen“, schreibt der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher.
Das merkt man selbst in einer ländlichen Region wie Hohenlohe. Die Erwerbslosenquote liegt hier inzwischen bei 2,8 Prozent. Es gibt rund 7.600 unbesetzte Stellen, fast 2.000 mehr als vor der Corona-Pandemie. „Der Fachkräftebedarf steigt stetig“, sagt Elisabeth Giesen, Leiterin der zuständigen Arbeitsagentur Schwäbisch Hall. „Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen.“
So hat sich der Arbeitsmarkt von einem „Arbeitgebermarkt“ zu einem „Arbeitnehmermarkt“ gewandelt. Den Beschäftigten gibt das mehr Macht, ihre Interessen durchzusetzen. Das Beispiel EBM zeigt, wie dadurch auch der Mut wächst, sich zu organisieren und gemeinsam für die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen einzutreten. Für die IG Metall wäre die Überführung eines Unternehmens dieser Größenordnung in die Tarifbindung jedenfalls ein Novum in ihrer jüngeren Geschichte. Aber vielleicht wird EBM Papst ja auch zum Anfang eines neuen Selbstbewusstseins in der Industrie.
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