Oliviero Toscani: Jeder Mensch ist ein Kunstwerk

Abgemagert sitzt Oliviero Toscani in einem Sessel, blaue Hose, weinrotes T-Shirt, seinen Blick hat er direkt in die Kamera gerichtet, kein Lächeln, ernst, genauso wie er es sich von den vielen Tausend Menschen, die er im Laufe seines Lebens fotografiert hat, gewünscht hat. Sogar seine berühmte Brille mit rotem Gestell, ohne die er nie aufgetreten ist, hat er abgenommen. Die Hände liegen in seinem Schoß. Was für ein Bild. Ein echter Toscani. 

Das Porträt erschien zu einem Interview, das Oliviero Toscani im vergangenen August dem Corriere della Sera gab. Er erzählte, dass er an Amyloidose erkrankt sei, einer unheilbaren Krankheit, die zum Versagen der menschlichen Organe führt. Es gebe keine Heilung. Jetzt wurde bekannt, dass Oliviero Toscani, der Fotograf, der durch seine Zusammenarbeit mit der Modemarke Benetton weltberühmt wurde, im Alter von 82 Jahren gestorben ist.

1982 hatte er Luciano Benetton, den Besitzer des Modehauses, frech gefragt, ob er nicht die beste Werbekampagne aller Zeiten machen wolle. Und hatte dem Unternehmer eine weitere Frage gestellt, die sein gesamtes Denken und Wirken auf den Punkt brachte, wie er später einmal der Süddeutschen Zeitung erzählte: „Ich fragte Luciano Benetton, was interessiert Zwanzigjährige wohl mehr? Ein gelber Pulli oder Aids? Er meinte, Aids, klar. Also haben wir damit gearbeitet. Jeder weiß, wie ein gelber oder grüner oder blauer Pulli aussieht. Aber alle machen sich Gedanken über Aids oder Rassismus oder Krieg. Nicht nur Zwanzigjährige. Auch wir, die Älteren. So fing das an.“

Toscani zeigte also in seinen Werbemotiven keine gelben oder grünen oder blauen Pullis, er zeigte einen Priester und eine Nonne, die sich küssten, er zeigte ein weißes Baby an der Brust einer schwarzen Frau. Eine schwule Familie. Flüchtlingsboote. Und er fotografierte die blutüberströmte Uniform eines getöteten Soldaten. Skandal! Shockvertising wurde seine Kunstform genannt, schockierende Werbung. Das Verblüffende war: Benetton wurde damit nicht nur sehr bekannt, sondern auch sehr erfolgreich.

Zweimal habe ich Oliviero Toscani interviewt, das erste Mal vor vier Jahren auf der Art Cologne, wo er erzählte, dass eine Reise nach Köln ein entscheidender Moment in seinem Leben gewesen sei. 1962 war das, als er dort sein Idol traf, den Fotografen August Sander, der mit seinem Werk Menschen des 20. Jahrhunderts Fotografiegeschichte geschrieben hat. „Ich war ein Fan von August Sander, wie andere Fans von den Beatles waren“, hat Oliviero Toscani erzählt, und wie froh er sei, dass er Sander noch kennenlernen konnte, zwei Jahre vor dessen Tod. Sein Lieblingsbild von Sander? Ein Junge mit Ziegelsteinen auf den Schultern, ernster Blick, direkt in die Kamera. 

Nach diesem Besuch in Köln wurde Oliviero Toscani klar: Das wollte er auch machen. Die Menschen zeigen, wie sie sind, egal, wer sie sind, woher sie kommen, was sie machen und welche Hautfarbe sie haben. Sie sollten ihm nur direkt in die Kamera schauen. „Wir haben Probleme damit, uns in die Augen zu schauen“, hat er in Köln erzählt, dabei sei das doch die intensivste Verbindung, die zwischen Menschen möglich sei.

Über 70.000 Menschen hat Oliviero Toscani auf diese Art im Lauf der Jahrzehnte porträtiert, vielleicht auch 80.000, so genau wisse er das nicht, aber was er sagen könne: „Jeder Mensch ist ein Kunstwerk.“ Und: „Gesichter sind Architektur, an ihnen kann man den gesellschaftspolitischen Zustand eines Landes ablesen.“