Okkupations-Museum: Eine gemeinsame europäische Zukunft braucht eine gemeinsame Erinnerung

Raphael Gross ist Historiker und seit 2017 Präsident der Stiftung Deutsches
Historisches Museum in Berlin.

Bereits 2020 beschloss der Deutsche Bundestag mit breiter Stimmenmehrheit, mit
den Planungen eines Zentrums zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft
in Europa zu beginnen. Die konkrete Planung eines Okkupations-Museums wurde dann
von der damaligen Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Monika Grütters, an
mich als Präsidenten des Deutschen Historischen Museums übertragen.

Seither ist viel geschehen. Und ich muss mir die Frage neu stellen: Brauchen
wir ein Okkupations-Museum wirklich? Soll der von meinem Team und mir am DHM
erarbeitete Realisierungsvorschlag, wie ihn der Deutsche Bundestag dann 2021
beschlossen hat, tatsächlich umgesetzt werden? Heute? In Zeiten leerer Kassen.
Eine neue Einrichtung? Oder zumindest eine eigens diesem Thema gewidmete
Abteilung im Rahmen des Deutschen Historischen Museums?

Was ist neu an diesem Plan eines solchen Okkupations-Museums mit dem bisher
schwer merkbaren Akronym ZWBE für „Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und
deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“? Dieses neue Zentrum wäre keine
weitere Gedenkstätte, die vor Ort an ein besonderes NS-Verbrechen erinnert. Stattdessen wäre es ein Museum, in dem die
gesamte Dimension der von Deutschland über Europa gebrachten Gewaltverbrechen
zwischen 1939 und 1945 dargestellt werden würde. Was damals über 230 Millionen
Menschen in heute mehr als 30 nationalen Gemeinwesen, was Juden und Jüdinnen,
Roma und Romnja, Patienten und Patientinnen von Heil- und Pflegeanstalten in
den besetzten Länder und viele andere erlitten haben, das wird hier insgesamt
zum Thema: Lager, Raub, Kulturzerstörung, Hunger, sexuelle Gewalt,
Patientenmorde, die Shoah, der Völkermord an Sinti und Roma, Zwang zur
Beteiligung. Es gibt bisher keinen solchen Ort in Deutschland, an dem die
Gesamtheit der deutschen Verbrechen in ihrer europäischen Bedeutung deutlich
wird. Ein solcher Ort würde helfen, unterschiedliche Perspektiven
zusammenzubringen.

In den ehemals besetzten Ländern gibt es eine vielschichtige Forschung, die
die deutschen Verbrechen an der Zivilbevölkerung ebenso wie die Rolle der
jeweiligen Länder mit in den Blick nimmt – in Deutschland sind solche Arbeiten
über Fachkreise hinaus kaum bekannt. Nicht immer sind die Bedingungen für
solche kritischen Forschungen günstig. Berlin sollte daher ein Ort sein, der
diese Arbeit unterstützt, Voraussetzungen zum freien Austausch ermöglicht und
diese historischen Erkenntnisse einem größeren Publikum zugänglich macht.

Aber wer ist das „wir“, das ein solches Museum braucht oder nicht braucht?
Es sind einmal die Nachkommen der damaligen Täter und Profiteure und
Profiteurinnen, die das wissen sollen. Es sind außerdem die Menschen in Deutschland, die aus den ehemals
besetzten Ländern hierhergekommen sind, aus dem Westen oder dem Osten. Und das
Museum wird von den Menschen in den europäischen Nachbarländern gebraucht: den
Nachkommen der Menschen, die sehr oft direkt unter diesen Verbrechen gelitten
und in deren Familien diese Gräuel bis heute schwere Wunden hinterlassen haben.
Für sie alle ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die sich an den
Quellen und Fakten, an dem, was die Archive und Akten, die Berichte und
Erinnerungen zeigen, wichtig.

Mir scheint, das Museum ist gerade heute wichtig. Ja, sogar wichtiger,
angesichts einer gemeinsamen europäischen Orientierung, um die gerade heftig
gerungen wird: Eine europäische Zukunft braucht die Möglichkeit einer
gemeinsamen Erinnerung, eines gemeinsamen politischen Gedächtnisses.

Ich habe viele Jahre in der Schweiz und in
Großbritannien gelebt: beides Länder, die heute nicht Teil der EU, aber doch Teil
Europas sind. Obwohl die Schweiz sicher nicht von den NS-Verbrechen
traumatisiert wurde, wie etwa Polen oder die Ukraine, und obwohl Großbritannien
zu den Siegern des Zweiten Weltkrieges gehörte, habe ich dort täglich erfahren,
wie wichtig es den Menschen ist, zu wissen, dass man sich in Deutschland der
Verbrechen des NS bewusst ist und diese verurteilt. Das gilt für Juden, aber
nicht weniger etwa für Polen, Niederländer oder Tschechen. Marzabotto oder Kalavryta sind in Italien und Griechenland Orte nationaler Traumata, die jedes
Kind kennt. In Deutschland weiß man darüber meist wenig.

Es wäre ein wichtiges Signal der neuen Koalition, wenn sie diesem mit
breiten Mehrheiten zweier vorangehender Parlamente angestoßenem und beschlossenem
Projekt nun tatsächlich zu einer Umsetzung verhelfen würde.