Offener Brief – Punk, Geschichte und Bewußtsein

Berlin, 9.Mai 2024

Liebe Leute vom SO36,

ich schreibe euch als Person, die eurem Veranstaltungsort und den dort auftretenden Künstler*innen sehr verbunden ist. Mein letztes hinreißendes Konzert waren Scream aus Washington D.C., sie sollen bald wieder bei euch spielen – zusammen mit den großartigen Soulside aus der gleichen Szene rund um das Dischord Label. Ich fiebere diesem Ereignis entgegen.

Nun hab ich mitbekommen, dass ihr eine Veranstaltung, auf der israelische und palästinensische Kriegsgegner*innen über gemeinsame Perspektiven diskutieren wollten, kurzfristig abgesagt habt. WTF! Why??? Eure Begründung lautet, man wolle den Holocaust-Gedenktag Jom haScho’a respektieren und deshalb an diesem Tag auf eine Diskussion über Israel verzichten. Mich würde wirklich interessieren, wie ihr auf diese kuriose pseudo-antifaschistische Begründung kommt.

Der linke Publizist und Autor Raul Zelik schrieb dazu im „nd“ vom 7.Mai 2024: „An einem Holocaust-Gedenktag soll man nicht darüber sprechen, wie Menschenrechtsverbrechen verhindert und Auswege aus ethnonationalistischer Gewalt gefunden werden können? Was bedeutet »Nie wieder«, wenn nicht, dass wir uns jeder Form von Entmenschlichung anderer widersetzen müssen?“ Ich denke, er hat damit vollkommen recht.

Ich weiß nicht, wann Raul Zelik das letzte Mal das SO 36 besuchte, kann sein, dass ihr seinen Musikgeschmack nicht trefft. Deswegen möchte ich euch explizit als jemand ansprechen, der sich jahrzehntelang der politischen Hardcore-Szene zugehörig fühlte und in ihr aktiv war, später eher aus der Ferne sich mit ihr verbunden meinte: Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass die Anfangszeit meiner Hardcore-Punk-Begeisterung mit der Ersten Intifada von 1988 in den von Israel besetzten Gebieten zusammenfiel. Die autonomen Jugendzentren, die besetzten Häuser und kleinen Szene-Clubs, in denen alle relevanten US-amerikanischen und europäischen Hardcore-Bands gastierten, waren eingetaucht in eine spontane bis politisch begründete Solidarität mit dem „Aufstand der Steine“. Die Bilder der systematisch knochenbrechenden Besatzungssoldaten, um die im Vergleich zu uns nur wenige Jahre jüngeren kids am Steineschmeißen zu hindern, gingen um die Welt. Sie berührte auch die damals in weiten Teilen autonom-internationalistische Hardcore-Punk-Szene Europas, auch der BRD und Westberlin. Bei mir zuhause findet sich noch eine Ausgabe des „südbadischen Hardcore-Magazins“ TRUST vom Januar 1989. Auf der Rückseite sieht man ein Bild einer Personengruppe: drei Soldaten, einer von ihnen holt mit seinem Gewehrkolben zum Schlag aus, unter den Soldaten eine Gruppe zusammengekauerter junger Frauen, schreiend und sich schützend. Über dem Bild steht „Palästina 88“, drunter „Alltag heute, und morgen?“

Die Frage nach dem Morgen ist nicht so schnell zu beantworten. Bis zum jetzigen, unter Völkermordverdacht stehenden Krieg Israels gegen die Bevölkerung von Gaza gab es etliche Stationen. Nennen wir einige: Zunahme des Fundamentalismus auf palästinensischer Seite, Zunahme des Ethnonationalismus auf israelischer Seite bis zur heutigen rechtsradikalen Regierungskoalition in Israel; Friedensverhandlungen, die keine waren; hoffnungsvolle Revolten mit Platzbesetzungen in Tel Aviv aufgrund von sozialen Probleme, Proteste die allerdings schnell abklangen; offene Worte einer „free Gaza-Youth“, die sowohl ein „Fuck you“ in Richtung Hamas als auch in Richtung Israel aussendete, leider war von ihnen dann nichts mehr zu hören; weitere Landnahme und Entrechtung der Palästinenser im Westjordanland; eine grausame Zweite Intifada mit Selbstmordanschlägen, eine Intifada also, die das mehrheitliche gewaltfreie Aufbegehren rund um 1988, in den Schatten stellte; Israel baute eine „Schutzmauer“, die wiederum mit Landnahme verbunden war, Gaza wurde geräumt und de facto von der Außenwelt abgeriegelt; es gab Kriege rund um den Landstrich, nationalistischer und religiös unterfütterter Hass nahm auf beiden Seiten zu; eine vom israelischen Staat geschützte und protegierte Siedlerbewegung, die ihre Ansprüche auf palästinensisches Land mit Gott und Religion begründen; eine fundamentalistisch-repressive Kraft namens Hamas auf palästinensischer Seite, die ihre Unterstützer in reaktionären Gottesstaaten fand; eine permanente Asymmetrie: symbolische Märsche auf Grenzzäune von palästinensischer Seite wurde mit systematischem Verwundetschießen Hunderter bis Tausender beantwortet; und immer und überhaupt: Kampf um Land und den Zugang zu Ressourcen, vom Wasser bis zu den kargen Böden. Ja, und dann gab es den 7. Oktober: einen Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis, an den sich Grausamkeiten gegenüber der Zivilbevölkerung und Kriegsverbrechen von Hamas und anderen Akteuren anschlossen. Bis jetzt sind an die 130 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Hunderte Palästinenser*innen finden sich in israelischen Gefängnissen ohne Verurteilung und erkennbare Anklage. Sicherlich habe ich einiges vergessen und ohnehin nicht in die richtige Chronologie gebracht. Aber wenn man nur kurz auf diese unvollständige und schnell heruntergeschriebene Auflistung blickt, wird doch deutlich, wie notwendig die Veranstaltung, die ihr in euren Räumen ausrichten wolltet und dann doch abgesagt habt, gewesen wäre.

Noch eine letzte Bemerkung zu „unserer Szene“ (?): 1988 kam eine Solisampler beim Amsterdamer konkurrel-Label heraus. Titel „Intifada. The Palestinian Uprising“, darauf waren so phantastische Bands enthalten wie The Ex, The Plot oder auch die Seein‘ Red. Die europäische Hardcore-Szene war zu meiner Zeit linker und politischer als die US-amerikanische. Doch auch dort gab es anarchistische Bands, linke, feministische, internationalistische. Kennt ihr Propagandhi? Lest den Text von „Fuck Religion“! Ich habe allerdings den Eindruck, dass die deutsche Szene zusehends eine Sonderrolle spielt, einen Sonderweg geht. Hierzulande greift auch in der doch eigentlich staatsfernen Punkszene zuweilen ein Pro-Israel-Bekenntnis um sich, das sich kritisch gegenüber Antisemitismus wähnt, zuweilen sogar meint, man wäre besonders „Gegen Deutschland“ und „Gegen jeden Antisemitismus“, wenn man sich lauthals pro Israel positioniert. Nennen wir es das Antilopen Gang-Phänomen. Um es deutlich zu sagen: Dieses sehr deutsche Bedürfnis, sich auf dem Rücken der Palästinenser*innen und linker Juden, Jüd*innen und Israelis als „guter Deutscher“ zu präsentieren (von mir aus auch als angeblicher „Antideutscher“) ist widerlich und zum Kotzen. Ich hoffe doch nicht, dass auch nur ein Kleinwenig von diesen sehr provinziellen und unpunkigen, sowieso antilinken Motivlagen und Bedürfnissen eure Entscheidung, diese wichtige Veranstaltung abzusagen, motiviert hat. Das SO 36 will doch ein freier Raum sein, in dem mehrheitsgesellschaftliche Verhaltensweisen nicht geduldet werden. Okay. Aber bitte: Das SO 36 soll auch staatsräsonfrei sein!

See you,

Cheers,

Love and Peace

Gerhard Hanloser