Nord Stream: Ist dasjenige Rätsel um den Ostseeanschlag gelöst?

Das Haus von Wladimir S. liegt in einer ruhigen
Wohngegend in Pruszków, einer Vorstadt südwestlich von Warschau. An einem
Nachmittag Ende Juli sind die Fenster des Hauses auf Kipp geöffnet, in der
Auffahrt steht ein schwarzer Ford Transit mit ukrainischem Kennzeichen. Von der Straße aus kann man in den Garten sehen. Ein Jugendlicher liegt dort
in einer Hängematte, kurz darauf erscheint ein Mann. Er trägt ein helles
T-Shirt, kurze Hose, dunkle Haare. Er steht mit dem Rücken zur Straße, sein
Gesicht ist nicht erkennbar. Ist das Wladimir S., der Hausherr?

Nichts deutet an diesem Nachmittag darauf hin, dass gegen Wladimir S. ein Haftbefehl
eines Ermittlungsrichters am Bundesgerichtshof vorliegt. Dass die Bundesregierung den Haftbefehl nach Polen übermittelt hat und sich auf höchster Ebene mit der polnischen Regierung
über sein Schicksal austauscht. Und dass Wladimir S. bis heute nicht zu greifen ist.

Der Ukrainer Wladimir S. soll an jenem Anschlag beteiligt gewesen sein,
der nicht nur den Ostseeboden erschütterte, sondern auch die Weltpolitik: die
Sprengung der Nord-Stream-Röhren Ende September 2022. S. gilt nach Recherchen
von ZEIT, Süddeutscher Zeitung und der ARD als
Hauptverdächtiger im Ermittlungsverfahren, das der Generalbundesanwalt wegen
des Verdachts der verfassungsfeindlichen Sabotage führt. Die Bundesanwaltschaft wollte sich auf Anfrage nicht äußern. S. selbst streitet eine Beteiligung ab.

Die Taucher kamen aus der Ukraine

Seit dem Anschlag vor knapp zwei Jahren wurde weltweit ebenso lustvoll wie
wild spekuliert, wer dahinterstecken könnte. War es die CIA, wie der einstige
US-amerikanische Starjournalist Seymour Hersh behauptet? Waren es die Russen
mit kleinen U-Booten, von Militärschiffen aus in die Tiefe geschickt? Oder war
es ein ukrainisches Kommando mit einer Segeljacht, wie die ZEIT gemeinsam mit dem ARD-Hauptstadtstudio,
dem SWR und dem Magazin Kontraste im März vergangenen Jahres erstmals berichtet hatte? Das Rätsel um die Sprengung der Pipelines, es könnte jetzt
zumindest in Teilen gelöst sein. Die Taucher, davon sind die Ermittler
überzeugt, kamen aus der Ukraine. Nur: Der Hauptverdächtige ist bis heute nicht festgenommen. Womöglich ist er entwischt. 


Der Tauchlehrer Wladimir S. gilt als Hauptverdächtiger.

Es war im Juni, als die Bundesregierung ihren Haftbefehl nach Polen übermittelte. Darin schilderten die Deutschen ihre Erkenntnisse zu Wladimir S., den die Ermittler anhand von Fotos und Zeugenaussagen identifizieren konnten. Demnach saß S. in einem weißen Citroën, der in der Nacht des 8. September 2022 bei Rügen geblitzt wurde und offenbar die Besatzung zur Jacht brachte. Das Blitzerfoto soll einen Mann zeigen, der S. sein könnte. Erhärtet wird der Verdacht durch Aussagen von Zeugen, die beschreiben, wie ein privater Fahrdienst eine Gruppe Ukrainer über Polen nach Deutschland chauffierte; auf einer Lichtbildvorlage soll S. als Mitfahrer erkannt worden sein. Die Indizien reichten für einen Haftbefehl.  

Über Wochen tat sich die neu gewählte polnische Regierung offenbar schwer mit einer Entscheidung. Denn in Polen galt der Bau der Nord-Stream-Pipelines als Sünde, ein mutmaßlicher Saboteur wie Wladimir S. wäre aus dieser Perspektive ein Held, ähnlich haben sich polnische Politiker hinter vorgehaltener Hand immer wieder geäußert. Die deutsche Bundesregierung war bis zuletzt unsicher, wie die Polen mit dem Haftbefehl umgehen würden. Konnte man einen „Helden“ wie ihn wirklich ausliefern? Oder würde Wladimir S. einfach irgendwann verschwinden? S. sagt am Telefon, von dem Verdacht gegen ihn höre er „zum ersten Mal“. Ob er an dem Anschlag beteiligt war? „Nein.“ Dann wird das Telefonat beendet.

Anfang September 2022 war eine Segeljacht vom Rostocker
Hafen Hohe Düne aus in See gestochen, eine Bavaria Cruiser 50. An Bord der Andromeda
befand sich den Ermittlungen zufolge das Kommando, das die Pipelines zerstören
sollte. Es soll aus sechs Personen bestanden haben, fünf Männern und einer
Frau. Unter ihnen, so der Verdacht, offenbar Wladimir S.

Nach Stopps auf Rügen, auf Bornholm und Christiansø in
Dänemark, im schwedischen Sandhamn und im polnischen Kołobrzeg kehrte das Boot wieder
nach Rostock zurück. Irgendwann während des Törns tauchte die Besatzung nach
Überzeugung der Ermittler von Bord der Jacht hinunter bis auf den Meeresgrund
und befestigte in der Dunkelheit der Ostsee die Sprengsätze bei den Röhren der
Pipelines – in rund 80 Meter Tiefe. An Bord der Andromeda
fanden die Ermittler später Rückstände des Sprengstoffs HMX, auch bekannt als
Oktogen.

Eine Vielzahl von Spuren

Am 26. September 2022 explodierten
die Sprengsätze und zerstörten drei der vier Röhren von Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Seither ermittelten Behörden in mehreren Ländern. Nirgendwo aber
waren die Ermittler so beharrlich wie in Deutschland. Während die
Untersuchungen in Dänemark und Schweden Anfang dieses Jahres ohne nennenswerte
Ergebnisse eingestellt wurden, fuhren die Beamten in Deutschland mit ihren
Ermittlungen fort – unbeeindruckt von den Spekulationen und von der
Berichterstattung. Und von der politischen Dimension des Verfahrens.

Denn der Anschlag war von Beginn
an nicht einfach nur ein krimineller Akt. Die Bedeutung der Pipelines machte
die Ermittlungen hochpolitisch. Was würde geschehen, wenn tatsächlich Ukrainer
hinter dem Anschlag steckten? Müsste der Botschafter einbestellt werden? Würden die
Waffenlieferungen gestoppt? Wie würde man umgehen mit einem Land, das die Infrastruktur
zerstört hat, über die sich Deutschland maßgeblich mit Gas versorgen wollte? Diese
Fragen stellen sich nun, nach Bekanntwerden des Haftbefehls gegen einen ukrainischen Staatsbürger, mehr denn je.

Denn im Zuge der Ermittlungen
stießen die Fahnder auf eine Vielzahl von Spuren: DNA-Reste an Bord der Andromeda
etwa. Oder das Blitzerfoto auf Rügen, das ein ukrainisches Auto zeigt, jenen privaten Fahrservice, der offenbar Teile des Kommandos aus der Ukraine nach Deutschland zur Andromeda gebracht hatte. Oder Beschreibungen der Crew von mehreren Seglern, die dem
Schiff im September 2022 im Hafen zufällig begegnet waren. Eine Liste von
mutmaßlich gefälschten Namen, die der polnische Grenzschutz bei einer Kontrolle
der Jacht in Polen notiert hatte. Schließlich mehrere Millionen Log-in-Daten von
Handys, die im September 2022 an der Ostseeküste eingeloggt waren. 

Irgendwann im Laufe des
Verfahrens begannen die Ermittler, sich für ukrainische Profitaucher zu interessieren. Sie stießen auf die Tauchschule Scuba Family aus
Kiew – und damit auf drei Ukrainer: Es handelte sich um die Betreiber
der Tauchschule, Ewgen U. und seine Frau Switlana. Sowie ihren Freund
Wladimir S., der als Tauchlehrer für sie arbeitete und der heute in Pruszków in Polen lebt. Ihre
Namen wurden zudem durch
einen nachrichtendienstlichen Hinweis bestätigt. Sie passten zu
einzelnen
Spuren aus dem Tatzeitraum. Der Rest war akribische Kriminalistik.