Norbert Walter-Borjans obig SPD-Steuerpläne: Warum Sigmar Gabriel falsch liegt

Wenn Friedrich Merz sich über Steuerpläne der SPD empört und auch Sigmar Gabriel dagegen giftet – wie am 15. Oktober in der FAZ geschehen – dann sollte man genauer hinsehen. Der eine ein Multimillionär, der sich als gehobene Mittelschicht ausgibt, der andere auch nicht gerade arm, aber vor allem nach wie vor getrieben vom Trauma seiner Ablösung von der SPD-Spitze. Hat die aktuelle Parteiführung mit ihrem jüngsten Beschluss womöglich einen wunden Punkt getroffen? Ist sie dabei, sozialdemokratisches Profil zurückzugewinnen, das viele im FDP-dominierten Ampel-Streit vermissen?

Auf der Klausurtagung hat der SPD-Parteivorstand am 13. Oktober mit einem sechs Seiten umfassenden Beschluss jedenfalls eine Duftmarke gesetzt. Darin steckt er Schwerpunkte für den nahenden Bundestagswahlkampf ab und will offenbar endlich auch in der Koalition erkennbarer werden.

Es ist kein tiefschürfender Beschluss, eher eine Liste, was man anpacken will: Investitionen in die Infrastruktur, Energiepreissenkung, Innovationsförderung, höherer Mindestlohn, Tariftreue, stabiles Rentenniveau – und auf neun Zeilen auch die Absichtserklärung, 95 Prozent der Steuerzahler zu entlasten. Dazu soll das Prozent mit den höchsten Einkommen zum Ausgleich „etwas mehr“ beitragen.

Ausnahmslos allen Forderungen in der Liste ist gemein, dass sie nicht zum ersten Mal erhoben werden. Und wie die Korrektur des Steuertarifs im Detail aussehen soll, ist genauso wenig ausgeführt wie die Umsetzung der anderen Ziele. Das kann ein solcher Beschlusstext auch gar nicht leisten. Es ist nicht mehr und nicht weniger als der Auftakt für eine präzisere Ausformulierung im Programm für die Bundestagswahl. Umso mehr fällt auf, mit welcher Massivität einige aus dem Kreis derer reagieren, die stärker in die Pflicht genommen werden sollen.

Was es jetzt braucht: Rückverteilung

Eine Entlastung der großen Mehrheit ist halt dann möglich, wenn die, die sich alles zu jedem Preis leisten können und ihr Vermögen seit Jahren dabei noch rasant vergrößern, einen angemessen höheren Beitrag zu den Kosten eines leistungsfähigen Gemeinwesens leisten. Ansonsten gäbe es nur Lösungen zulasten Dritter. Etwa, indem wir unseren Lebensstandard noch ein bisschen mehr von Menschen garantieren lassen, die in anderen Teilen der Welt zu Hungerlöhnen unsere Handys, Textilien und Nahrungsmittel produzieren. Oder indem wir den Klimawandel ignorieren, als gäbe es kein Morgen. Ganz zu schweigen von der Rücksichtslosigkeit, die wir walten lassen, um das billigste Steak auf den Teller zu bekommen.

Man kommt um das Unwort nicht herum: Eine gerechtere, stabilere, weil nachhaltigere Welt und ein gerechteres, stabiles und zukunftsfähiges Land, in dem nicht immer mehr Menschen von Existenzangst getrieben werden, sind nach Jahren des Auseinanderdriftens von Oben und Unten eine Frage von Umverteilung oder, wie der Armutsforscher Christoph Butterwegge es nennt: Rückverteilung.

Es stimmt ja: Man kann nur verteilen, was man erwirtschaftet. Aber ein Blick auf die Entwicklung der Vermögen in Deutschland zeigt, dass seit langem im großen Stil erwirtschaftet wird. Es wird nur nicht so verteilt, dass alle, die zum Erwirtschaften beitragen, auch davon leben können. Bisher hat diese nüchterne und von der überwiegenden Mehrheit der Menschen geteilte Erkenntnis kaum Wirkung gezeigt. Das ist kein Wunder.

Welchen Einfluss die Reichen-Lobby ausübt

Die Lobby der Mega-Vermögenden scheut keine Kosten und Mühen, deutlich zu machen, dass schon eine Verlangsamung der immer schiefer werdenden Einkommens- und Vermögenskonzentration am Ende gar nicht die wenigen wirklich Reichen trifft, sondern der großen Mehrheit schadet. Entweder, weil man Menschen mit Einkommen oberhalb des Durchschnitts glauben macht, sie gehörten selbst zum Kreis derer, die „der Staat“ schröpfen will – oder weil man mit dem Abbau von Arbeitsplätzen droht.

CDU/CSU und FDP stehen ebenso wie die als „Partei der kleinen Leute“ geschminkte AfD in der ersten Reihe derer, die Ungleichheit ungeachtet einer gegenläufigen Entwicklung als Elixier für dauerhaftes Wachstum und Wohlstand aller Bürger sehen. Leider stellen sich viele Sozialdemokraten und Grüne dieser Einschüchterungsstrategie, wenn überhaupt, dann nur zaghaft entgegen. Nicht selten fühlen sie sich sogar geschmeichelt, wenn ihr Einknicken vor den Interessen des großen Geldes mit dem Etikett „Wirtschaftskompetenz“ geadelt wird.

Wer – wie Sigmar Gabriel in der FAZ – Kurt Schumacher zitiert, dass „Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginnt“, sollte diese Wirklichkeit nicht aus den Augen verlieren. Zur Wirklichkeit gehört aber auch, dass es unter den vermögendsten Deutschen solche gibt, die ihr Kapital in Erfindungsgeist und Fortschritt zum Wohl aller investieren und deshalb unterstützt und gefördert werden sollten. Im krassen Kontrast dazu stehen diejenigen, die weder durch Leistung reich geworden sind noch zu Innovation und gesellschaftlichem Fortschritt beitragen. Deshalb hätte ich der SPD-Spitze den Mut zur klaren Differenzierung gewünscht.

Wo die SPD-Skizze leider wirklich unausgegoren ist

Sie sollte nicht pauschal von „etwas mehr“ sprechen, mit dem sich das vermögendste Prozent beteiligen sollte. Stattdessen wäre es nach Jahren der versteckten Steuersenkungen für Top-Verdiener an der Zeit, von den Reichsten ruhig „deutlich mehr“ zu fordern und gleichzeitig anzukündigen, dass die, die investieren und Zukunft schaffen, mit Unterstützung rechnen können – auch steuerlich.

Den Empörten wie Friedrich Merz sollte sie offensiv entgegentreten und sagen: Das ist in der Tat keine reine Marktlehre, sondern Primat der Politik. Der Markt ist ein wichtiges Instrument, aber er ersetzt nicht die Bewertung dessen, was unterstützenswertes Gewinnstreben und was Geldgier ohne Sinn und Verstand ist.

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In einem Punkt ist die steuerpolitische Skizze der SPD leider tatsächlich unausgegoren. Eine Abflachung des sogenannten „Mittelschichtbauchs“, der – sagen wir – wenigstens 70 Prozent der Einkommen wirklich spürbar entlasten würde, ist mit einer noch so starken Korrektur im obersten Einkommenssegment nicht zu finanzieren.

Mindereinnahmen aus der Einkommensteuer wären eine unvermeidliche Folge. Das spricht aber nicht gegen die Richtigkeit des Ansatzes. Es macht nur deutlich, dass die Sicherung eines stabilen und zukunftsfesten Gemeinwesens die größten Vermögen, insbesondere die leistungslos erzielten Mega-Erbschaften mit in den Blick nehmen muss. Zu einer soliden Finanzierung staatlicher Aufgaben gehört außerdem der Paradigmenwechsel, dass staatliche Kreditaufnahme keine Lastenverschiebung in die Zukunft bedeutet, wenn damit Investitionen finanziert werden.

Wenn sie den nachfolgenden Steuerzahlerjahrgängen mehr Nutzen bringen als Zins und Tilgung kosten, ebnen Kredite der nächsten Generation Wege. Allerdings muss dann auch sichergestellt werden, dass der Kapitaldienst nicht an den kleinen und mittleren Einkommensbeziehern hängen bleibt. Eine solche Reform der Staatsfinanzierung, die Steuern, Kredite und auch die Sozialabgaben umfasst, wäre die richtige Schlussfolgerung aus dem Betrachten der Wirklichkeit.

Olaf Scholz ließ Steuerpläne in Koalitionsverhandlungen zu schnell fallen

Die wenigen Zeilen im Beschluss des Parteivorstandes könnten der Anfang sein, wären da nicht die Erfahrungen aus der Vergangenheit. Der Herrn Merz so empörende Vorstoß ist nach 2013, 2017 und 2021 der mindestens vierte Aufguss. Dass bisher nichts geschah, ist zweifellos dem politischen Kräfteverhältnis im Bund und (wegen der notwendigen Bundesratsbeteiligung) auch in den Ländern zuzurechnen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die SPD, allen voran der derzeitige Kanzler, in Koalitionsverhandlungen sehr schnell Bereitschaft gezeigt hat, auf ihre steuerpolitischen Wahlaussagen zu verzichten. Sie waren am Ende immer nur der Preis für das Durchsetzen anderer Forderungen, mit denen mehr Eindruck zu machen war. Zur ausgeprägten Verzichtsbereitschaft in Sachen gerechter Besteuerung hat aber auch der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel beigetragen.

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Auch er hat sich nach der Bundestagswahl 2013 bereitwillig auf die von interessierter Seite gestreute Interpretation eingelassen, dass der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück an den steuerpolitischen Vorstellungen in seinem Wahlprogramm gescheitert sei. Steuerpolitik, darüber war man sich schnell einig, sei ein Verliererthema.

Mit seinem erneuten Beschluss setzt der SPD-Parteivorstand wieder einmal den richtigen Akzent. Wenn die Wählerinnen und Wähler die Ankündigung aber auch glauben sollen, muss diesmal die Frage nach der Verbindlichkeit beantwortet werden. Gedenkt die SPD der überfälligen Korrektur der Besteuerung im Fall einer Beteiligung an Koalitionsverhandlungen nach der nächsten Wahl tatsächlich Priorität einzuräumen?

Dann wäre Voraussetzung dafür, Innovationsförderung, Zukunftsinvestitionen und Verteilungsgerechtigkeit als Paket im Wahlkampf hörbar zu thematisieren und auch bis zum Schluss durchzuhalten. Andernfalls müsste es sich der SPD-Parteivorstand erst gar nicht antun, Friedrich Merz mit Aussagen zur Verteilungsgerechtigkeit zu empören und Sigmar Gabriel Raum für persönliche Abrechnungen zu bieten.

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Norbert Walter-Borjans (geboren 1952) war von 2010 bis 2017 Finanzminister in NRW. In dieser Zeit machte er sich einen Namen als „Robin Hood“, weil er Steuerhinterziehern den Kampf ansagte. Von 2019 bis 2021 amtierte er, zusammen mit Saskia Esken, als Parteivorsitzender der SPD.