Nie war dieses Instrument so wertvoll wie heute

Daniil Trifonov und all die anderen weltgrößten Pianisten müssen jetzt möglicherweise sehr stark sein, wenn sie es, was wahrscheinlich ist, noch nicht wissen. Johann Sebastian Bach hatte nämlich, wer einmal im Leipziger Bach-Haus war, ahnt das zumindest, gar keinen Platz für einen Steinway D-274, einen großen Bösendorfer Imperial oder einen Fazioli F 308 oder irgendeinen anderen gut drei Meter langen Flügel, auf dem sie in den Konzerthallen der Welt das Wohltemperierte Klavier oder die Kunst der Fuge spielen, das Italienische Konzert und die Suiten.

Vermutlich hätten auch die Decken des Bach-Hauses vor einem SteinwayBösendorferFazioli kapituliert – so ein Grand Piano wiegt schließlich gut 500 Kilo. Und die Nerven der Nachbarn bei nächtlichen Komponieranfällen gleich mit.

Das Wohltemperierte Klavier entstand an und auf einem unscheinbaren vermutlich rechteckigen Kasten. Nicht groß, nicht teuer, leicht zu stimmen, leicht zu transportieren, leise, das ideale Heim- und Unterrichtsinstrument. Einem herrlich scheppernden, herrlich singenden Ding, das auf dem Spielsystem eines der ältesten Musikinstrumente überhaupt basiert, dem Monochord.

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Und das klingt, als wuselten in seinem Inneren – vom Druck der Tasten angetrieben – ein paar klitzekleine Anschläger zwischen den Saiten herum. Sie klopfen und streicheln und reagieren aufs Feinste auf das, was der Pianist da mit seinen Fingern macht.

Clavichord heißt das Ding. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts und ein bisschen darüber hinaus, war es ziemlich populär. Es war für alle, die an Tasten spielten, die „erste Grammatica“, wie es der berühmte Musiklexikalist Johann Gottlieb Walther 1732 schrieb. Wer es auf dem Clavichord kann, so Walther, kann es auch, „auf Spinetten, Clavicymbeln, Regalen, Positiven und Orgeln“.

Am Clavichord, mit dem man durch den schieren Fingerdruck, die Lautstärke, die Tonhöhe verändern kann, selbst eine Form von Vibrato kriegt man hin (Bebung genannt), lernt sich der sorgsame Umgang mit Tasten. Es ist „zu den feinsten Nuancen des Vortrags geeignet, oft Labsal dem Dulder und des Frohsinns für den theilnehmenden Freund“ (so stand es noch in einem Lexikon im Jahr 1802).

Das Clavichord ist sein Lehrmeister: András Schiff
Das Clavichord ist sein Lehrmeister: András Schiff
Quelle: picture alliance/KEYSTONE

Friedrich Gulda hat den seltsamen Klangfarbkasten geliebt, hat ihn in Konzerten sogar – elektronisch verstärkt allerdings – benutzt. Privat hat er Teile von Bachs Wohltemperierten Klavier aufgenommen, die Chromatische Fantasie und Fuge, die zweite Englische Suite. Die Bänder davon sind vor fünf Jahren posthum auf CD erschienen. Einen Boom des Clavichords haben sie nicht ausgelöst.

Das war aus mehreren Gründen auch nicht unbedingt zu erwarten. Es gibt nicht mehr viele Instrumentenbauer, die sich auf den Bau oder Nachbau des Saitenklingers verstehen. Und das Clavichord malt zwar Bilder von einer ganz fremden Schönheit in den Raum. Er darf allerdings nicht sehr groß sein, der Raum. Ein Clavichord ist im wahrsten Wortsinn ein Kammermusikinstrument.

Clavichord-Konzerte sind selbst in Kammermusiksälen auch in Zukunft kaum zu erwarten, weil selbst Kammermusiksäle heutzutage durch ihre Größe natürliche Habitate von Grand Pianos sind. Ist man also auf Aufnahmen angewiesen. Und einen Pianisten, der sich nicht mit dem globalglatten Franchise-Sound der SteinwayBösendorferFazioli zufrieden gibt. Einen Farbfantasten.

András Schiff auf dem Clavichord

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Womit wir jetzt endlich bei András Schiff angekommen wären. Der gehört natürlich auch in die Daniil-Trifonov-Weltgrößten-Liga. Mit seiner Meinung über den windschnittigen Einheitsklang jener Instrumente, auf denen er spielen soll, wenn er nicht gerade mit seinen eigenen Flügeln unterwegs ist, hat er sich trotzdem nicht unbedingt nur Freunde gemacht.

András Schiff besitzt zwei Clavichorde. Sie stehen in seiner Wohnung in Florenz und in der in Basel. Das muss so. Weil András Schiffs Tage mit musikalischen Morgenmeditationen beginnen. Er spielt Bach vor dem Frühstück. Früher hat er es auf einem Flügel getan. Jetzt spielt er Clavichord. Und er tut es nicht der Nachbarn wegen.

Es ist eine sehr persönliche Beziehung, die er zu seinem Clavichord hat. Ein sanftes Wesen sei das, so Schiff, eine „Oase in unserer lärmigen Welt“. Großartige Kleinigkeiten von Bach hat Schiff jetzt (für ECM) in dieser Oase aufgenommen und fabelhafte Großartigkeiten. Die Chromatische Fantasie und Fuge, das frühe Capriccio auf die Abreise seines Bruders, die Inventionen und Sinfonien vor allem allerdings die Bach für den Unterricht schrieb (den seiner Söhne und aller, die später jemals am Klavier saßen).

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Als hätte Günther Uecker mit Nägeln herrlich bunte Aquarelle gemalt, klingt das mit einem Mal. Ein durchsichtig, ein transparentes Linienspiel, das die Ohren frei für macht für immer neue, immer feinere Nuancen.

Differenzierter, verständlicher spiele er Bach selbst auf dem Flügel, seit er das Clavichord traktiert, sagt Schiff. Intimer, erzählerischer. Das Clavichord ist eben ein Gesangsinstrument. Kann aber auch eine ganz schöne Diva sein, wenn man vergisst, wie feinfühlig es ist. Es verzeiht nichts. Für Grobiane nicht geeignet, es sei denn, für deren Zähmung.

Das Schlimmste und Schönste an diesem Album allerdings, und da müssen Daniil Trifonov und all die anderen weltgrößten Pianisten jetzt noch einmal ganz stark sein: Man will das alles gar nicht mehr anders hören.

Source: welt.de