News des Tages: Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, Bürgergeld, Bundesrat, »Air Force One«, Boeing

1. Warum giftet die Türkei nach dem Anschlag von Istanbul in Richtung USA?

Im Juni 2023 findet in der Türkei die nächste Präsidentschaftswahl statt. Lange schien es, als könnte die Wahl dem seit August 2014 amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen Dämpfer verpassen – und das, obwohl er 2018 eine neue Verfassung mit weitreichenden Rechten für den Präsidenten durchdrückte.

Doch die heillos orientierungslose und zerstrittene Opposition in der Türkei gab zuletzt kein vorteilhaftes Bild ab, sodass sich Erdoğan wieder stabilisierte.

Am Wochenende ereignete sich mitten in der belebtesten Fußgängerzone Istanbuls ein verheerender Anschlag, bei dem sechs Menschen starben. Und so zynisch das klingen mag: Auch dieser Anschlag dürfte Erdoğan bei seinem Bestreben, 2023 erneut als Gewinner über die Ziellinie zu gehen, eher nützen als schaden.

Das türkische Innenministerium macht die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und deren syrischen Ableger, die YPG, verantwortlich. Die PKK wies die Anschuldigungen zurück. Ein Sonderkommando der Polizei stürmte eine Wohnung in Istanbul und präsentierte eine Frau als Verdächtige. Der türkische Innenminister Soylu gab den USA eine Mitschuld an dem Attentat, weil diese in Syrien im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat« mit der YPG kooperiert. Und so verbat sich die türkische Regierung auch jegliche Anteilnahme der USA. Als würde der Mörder als Erster am Tatort erscheinen, giftete Soylu in Richtung Amerika, als das Außenministerium sein Beileid aussprach.

Meine Kollegen Maximilian Popp und Şebnem Arsu berichten über den Anschlag und beschreiben eine Türkei auf Identitätssuche. 2016 kam es zu einem Putschversuch, anschließend gab es Massenverhaftungen von Oppositionellen und Journalistinnen und Journalisten, es folgte ein wirtschaftlicher Niedergang und eine Inflation, die im Oktober einen Wert von über 80 Prozent erreichte.

Zuletzt punktete Erdoğan wieder, weil er beim Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine vermittelte. Jetzt kann er den Anschlag zum Vorwand nehmen, wieder gegen Oppositionelle vorzugehen.

2. Blockade zulasten der Bedürftigen?

Es war eine Abfuhr mit Ansage: Stolz präsentierte die Ampelkoalition kürzlich noch die Nachfolge von Hartz IV, das sogenannte Bürgergeld. Es sollte gerechter sein, es sollte mehr Geld für Bedürftige geben, es sollte das miese Image der Sozialleistung abstreifen. (Worum es im Detail geht, erklären wir hier.)

Doch von Anfang an signalisierte die Unionsfraktion im Bundestag, dass sie mit dem Konzept nicht einverstanden ist. Ihr Argument: Das Bürgergeld animiere dazu, lieber keine Arbeit anzunehmen, als eine schlecht bezahlte. Es lief, wie es immer in Berlin läuft. Mit diversen Vorstößen à la »Gibst du mir, geb ich dir« versuchte die Ampel, die Opposition noch umzustimmen. Vergeblich. Heute lehnte die Union den Gesetzentwurf des Bürgergelds in der Länderkammer, dem Bundesrat, ab. (Hier mehr dazu.)

Nun muss sich ein Vermittlungsausschuss des Problems annehmen. Die Zeit drängt. Sollte bis zum nächsten Bundesratstermin am 25. November kein Kompromiss gefunden sein, wird das Bürgergeld nicht wie geplant am 1. Januar 2023 ausgezahlt werden können.

Mir scheint die Blockade der Union Stellvertretercharakter zu haben: Endlich kann sie der Regierung mal einen mitgeben. Bei der ganzen Krisenbewältigung hielt sie sich weitgehend an ihre Staatsräson. Die Ampelpläne sehen beim Bürgergeld unter anderem eine Erhöhung des heutigen Regelsatzes von 449 Euro für Alleinstehende auf 502 Euro vor, zudem soll ein Schonvermögen von 60.000 Euro unangetastet bleiben. Zu den Kritikpunkten zählt nun, dass dieses Schonvermögen erhöht wurde und dass es Sanktionen nur noch im wiederholten Falle wegen Pflichtverletzungen geben soll.

Ich glaube, niemand in der Union denkt ernsthaft, dass ein Arbeitsloser gern Leistungen bezieht – nur weil er jetzt etwas mehr Geld auf dem Konto haben darf als vorher. Aber es ist eine Chance, sich mal als Opposition in Stellung zu bringen – womöglich auf Kosten der Bedürftigen. Die AfD begrüßte die Blockade im Übrigen.

3. Gestutzte Flügel?

Das Flugzeug des US-Präsidenten hat Ikonen-Status. Die »Air Force One« ist nicht nur ein Transportmittel, sie ist Wahrzeichen und Machtsymbol zugleich. Als sich 2017 in Hamburg die Staats- und Regierungschefs zum G20-Gipfel in Hamburg trafen (Sie erinnern sich vielleicht, diese kleine hafengeburtstagsähnliche Veranstaltung) und der damalige US-Präsident Donald Trump ein- und ausschwebte, wurden viele Bürgerinnen und Bürger plötzlich zu Planespottern, die dem Riesenvogel hinterherschauten.

Für den Flugzeugbauer Boeing war die »Air Force One« lange ein Prestigeprojekt. Die beiden Maschinen, die aktuell im Einsatz sind, haben schon George Bush befördert –, den älteren wohlgemerkt, als der noch die Deutsche Einheit aushandelte. Zeit also, für Ersatz zu sorgen, denn auch Ikonen kommen in die Jahre.

Donald Trump entschied während seiner vierjährigen Amtszeit, zwei neue Boeing 747–8 zu Präsidentenmaschinen umrüsten zu lassen. Das entpuppt sich nun für Boeing zum finanziellen Debakel . Aus dem Prestigeobjekt wurde binnen weniger Jahre ein Auftrag, den Boeing am liebsten an seinen schärfsten Konkurrenten Airbus weiterreichen würde. Es sei »ein sehr einzigartiges Sortiment an Risiken, das Boeing wahrscheinlich nicht hätte übernehmen sollen«, sagte der heutige Boeing-Chef David Calhoun, der damit seinem Vorgänger ganz unverhohlen einen einschenkte. Dieser kam devot zu einer Audienz des damaligen Präsidenten nach Mar-a-Lago und ließ sich die Wünsche von Trump diktieren und gleichzeitig runterhandeln. Inzwischen ist das Vorhaben für Boeing so komplex, dass der Flugzeugbauer mit einem Verlust von zwei Milliarden Dollar rechnet, wie meine Kollegin Ines Zöttl berichtet.



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Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Biden warnt Xi vor Militäraktion gegen Taiwan: Die Staatschefs Chinas und der USA sind auf Bali persönlich aufeinandergetroffen. Joe Biden attestierte Peking ein »zunehmend aggressives« Vorgehen gegen Taiwan. Xi Jinping sprach seinerseits von einer »ersten roten Linie«.

  • Innenministerin Faeser erwägt neuen Posten für Schönbohm: In der Affäre um den zwangsbeurlaubten BSI-Präsidenten agiert Bundesinnenministerin Nancy Faeser bisher unglücklich. Nach SPIEGEL-Informationen könnte sie Arne Schönbohm nun zum Chef einer Beamtenakademie machen.

  • Überwachungskameras filmen Tesla-Unglücksfahrt: Softwarefehler oder menschliches Versagen? Ein Tesla Model Y ist in der südchinesischen Provinz offenbar unkontrolliert durch die Straßen gerast. Kameras dokumentierten die verhängnisvolle Fahrt.

Meine Lieblingsgeschichte heute…


SPD-Chefin Esken: Dass ein Drittel der Deutschen nicht weiß, wer sie ist, ist ihr komplett egal

SPD-Chefin Esken: Dass ein Drittel der Deutschen nicht weiß, wer sie ist, ist ihr komplett egal


Foto: Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

…ist das Porträt über die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken meines Kollegen Veit Medick. Er hat den Text überschrieben mit »Die Frau aus Stahl« – was er wahrscheinlich doppeldeutig meinte. Zum einen beschreibt er, wie in Esken nach einer schlimmen Schienbeinverletzung Schrauben und Platten eingesetzt wurden und sie sowohl davor als auch danach unbekümmert weitermachte und die Schmerzen wegdrückte. »Ist, wie es ist. Halb so wild«, lautet Eskens Leitspruch.

Zum anderen trifft die Stahl-Metapher nach Veits Beobachtungen auch auf Eskens Psyche zu. Kaum eine Politikerin in der jüngeren Vergangenheit musste mehr Hohn über sich ergehen lassen, kaum einer wurden weniger Fähigkeiten für irgendwas attestiert als der Linken aus dem Südwesten Deutschlands. Über die Wochen, in der Veit Esken begleitete, begegnete er aber einer Frau, die sich den üblichen Mechanismen der Berliner Politik konsequent entzieht – und gerade darauf ihren Erfolg aufbaut: eine Karriere ohne Plan, ein Auftreten ohne Blenderei, eine politische Verbindlichkeit ohne Verrat an sich selbst.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen


Was heute weniger wichtig ist

Jesuslatschen: Würden Sie fast 220.000 Dollar ausgeben (können?), um einmal auf den Spuren von Steve Jobs zu wandeln? Soviel jedenfalls hat ein anonymer Mensch geboten, um ein paar ausgetretene Birkenstock-Schuhe des Apple-Gründers zu ersteigern – ein Vielfaches des Schätzpreises. Für Kurt Cobains demolierte Gitarre kamen fast 500.000 Dollar zusammen, für eine verbeulte Brille von John Lennon 162.000 Dollar. Ist doch schön, wenn sich die Käufer oder Käuferinnen dann selbst ein wenig wie Genies fühlen können, nur weil sie deren Habseligkeiten besitzen.

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Nomi wurde bald zum Geheimtipp der Avantgarde, mit seinen roboterhaften Bewegungen, den kubistischen Kostümen, die wie aus Fritz Langs ›Metropoplis‹ wirkten, und dem überirdischen Gesang eroberte er die Bühnen – bis er viel zu früh, im Jahr 1982, mit nur 39 Jahren starb.«

Cartoon des Tages: Qatar 2022



Illustration: Klaus Stuttmann


Und heute Abend?

Könnten Sie von helleren Tagen träumen, von Reisen, von schönen Orten – kurz: vom nächsten Sommer. Um Ihnen das zu erleichtern, empfehle ich Ihnen, die Reihe »Das Monster und ich« meiner Kollegin Sandra Schulz nachzulesen. Sie begann im September 2021 davon zu erzählen, wie sie sich trotz tiefer Abneigung gegen Wohnmobile aus Liebe zu ihrem Mann mit dieser Form des Tourismus arrangierte.

Inzwischen sind elf Folgen dieser hoch amüsanten Reihe erschienen. In einer seltenen Nonchalance und mit einer bewundernswerten Gabe, über sich selbst und den engsten Partner lachen zu können (voller Zuneigung natürlich), beschreibt Sandra, wie die Passion ihres Mannes irgendwann sie selbst ergriff. Zum jüngsten Text  vom vergangenen Wochenende schrieb jemand im Forum: »Ich glaube, dass ich zuletzt bei Böll so etwas gelesen habe.« Keine Ahnung, ob Heinrich Böll jemals mit einem Wohnmobil unterwegs war. Aber hätte er damals schon Sandras Texte lesen können, bin ich sicher, hätte er sich auch als Grünen-Sympathisant zumindest mal eins für einen Urlaub gemietet. Probehalber.

Lesen Sie hier alle Teile.

Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Janko Tietz