Neuwahl: Der Kuchen muss vielleicht weder noch Vorleger werden

Die Hoffnung, dass die neue
Bundesregierung
die großen Probleme endlich löst, ist naiv. Vier grundlegende
Konfliktlinien zwischen den Parteien im Bundestag spiegeln die Spaltung der
Gesellschaft wider und werden wohl auch unter einer neuen Regierung –
unabhängig von der Koalition – bestehen bleiben und sich womöglich sogar
verschärfen.

Der erste Konflikt dreht sich um Identität
und die Frage, ob und in welchem Ausmaß wir eine offene Gesellschaft sein
wollen, die Vielfalt, Toleranz und Solidarität wertschätzt. Dieser Konflikt
zeigt sich besonders stark beim Thema Migration. Obwohl unser Wohlstand ohne
die starke Zuwanderung der letzten Jahrzehnte kaum denkbar wäre, sehen viele
Menschen in Deutschland die Migration heute als das größte Problem unserer Zeit. Angesichts der Tatsache, dass heute jede vierte Person hierzulande eine Migrationsgeschichte hat, wirkt dies
befremdlich. Die Vielfalt erleichtert es jedoch populistischen Kräften, Gruppen
gegeneinander auszuspielen und daraus politische Macht zu schöpfen.

Der Rückschritt in der offenen
Gesellschaft betrifft auch viele Aspekte der Chancengleichheit, etwa die Gleichstellung von Frauen, Grundrechte für diverse Menschen, für
Musliminnen und Muslime oder für Homosexuelle. Viele Errungenschaften der letzten Jahrzehnte
werden heute infrage gestellt oder zurückgenommen.

Konflikte um die offene Gesellschaft werden sich verschärfen

In der Ampelregierung bestand in
vielen dieser Fragen Einigkeit, zum Beispiel beim Staatsbürgerschaftsrecht.
Gerade die FDP wurde in diesem Punkt den Ansprüchen einer liberalen Partei
gerecht. Unter einer neuen Bundesregierung dürfte sich jedoch die Konfliktlinie
um die offene Gesellschaft verschärfen. Die Union verfolgt inzwischen einen
migrationskritischen Kurs, will deutlich mehr Abschiebungen und die Grenzen
möglichst schließen. Sie plant, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die
über zwei Millionen Ausländern und Ausländerinnen den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtert,
rückgängig zu machen.

Auch in anderen Bereichen wie der
Gleichstellung und dem Schutz von Minderheitenrechten vertritt die Union unter
Friedrich Merz und Markus Söder stark konservative Positionen: So hat Friedrich Merz kürzlich empört auf die überparteiliche Gesetzesinitiative im Bundestag zur
Abschaffung von Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs reagiert
, sodass
Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche nicht länger eine Straftat für
die betroffenen Frauen und für Ärztinnen und Ärzte sind, die den Eingriff durchführen. Ein möglicher nächster Bundeskanzler, der
eine so wichtige Initiative mit einer so starken Unterstützung in der
Bevölkerung ablehnt, zeigt, dass die nächste Bundesregierung einige
Errungenschaften für Frauen und für Minderheiten nicht nur stoppen, sondern
zurückdrehen könnte.

Der zweite grundlegende Konflikt
betrifft die Rolle des Staates. Das Vertrauen in den Staat und seine
Institutionen ist in den letzten zwanzig Jahren stark erodiert. Die Union, vor
allem aber die FDP und die AfD, nutzen dies für ihre Politik. Ein Beispiel ist
die kategorische Ablehnung jeglicher Steuererhöhungen durch diese Parteien: Sie argumentieren, Steuererhöhungen bedeuten einen größeren Staat, der dieses Geld nicht sinnvoll
verwalten würde, sondern lediglich neue Beamte einstellen und die
Konsumausgaben erhöhen würde. Daher wird eine strikte Schuldenbremse
befürwortet, die eine Verringerung der Schuldenquote und damit der
Staatsausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung erzwingt. Auch die nächste
Bundesregierung wird neue Projekte auf die eine oder andere Art und Weise finanzieren
müssen. Es wird deshalb voraussichtlich eine Reform der Schuldenbremse geben,
diese dürfte jedoch eher symbolischen als substanziellen Charakter haben.

Der Neoliberalismus könnte zurückkommen

Auch in der Wirtschafts- und
Industriepolitik werden die unterschiedlichen Staatsphilosophien unter einer
neuen Bundesregierung fortbestehen. SPD und Grüne sind von einer
interventionistischen Industriepolitik überzeugt, in der der Staat direkt
eingreift, Prioritäten setzt und in manchen Bereichen sogar unternehmerisch
tätig wird. Dem steht eine neoliberale Wirtschafts- und Industriepolitik
gegenüber, die den Staat auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen mit
niedrigen Steuern beschränkt.

Die dritte grundlegende
Konfliktlinie betrifft die Verteilungsfrage zwischen Arm und Reich, Jung und
Alt sowie zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Auf der einen
Seite stehen SPD, Grüne, Linke und BSW, die einen starken Sozialstaat als
Grundlage des Gesellschaftsvertrags und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
sehen. Sie möchten den Sozialstaat stärken – und mehr Geld in Bildung,
Rente, Pflege, Gesundheit sowie zur Bekämpfung von Armut und Niedriglohn stecken. Auf
der anderen Seite stehen Parteien, die massive Kürzungen der Sozialausgaben fordern, um Einsparungen zu erzielen. Diese sollen dann in Form von Steuersenkungen an vermeintliche
„Leistungsträger“, also Spitzenverdiener und Unternehmen, weitergegeben werden. Ziel ist es, Leistung besser zu honorieren und Anreize zur
Erwerbsarbeit zu schaffen.