Neutralitätsgebot: Was welcher neue Einfluss welcher AfD wirklich bedeutet

Es gibt
Veränderungen, die sind ganz offensichtlich. Und dann einige, die so
schleichend passieren, dass man sie kaum bemerkt – und die deswegen vielleicht
umso bedeutender sind. Auch weil sie sich noch mal verstärken könnten, nein
werden, jetzt, wo die AfD in Thüringen mit Abstand stärkste Kraft geworden ist
und auch in Sachsen fast ein Drittel aller Wählerinnen repräsentiert

Während man
dort nun versucht, Regierungen zusammenzuschustern, die irgendwie um die AfD
herumregieren, ist deren Sicht der Dinge ganz klar: Wir sind, wie Björn Höcke
am Thüringer Wahlabend zu betonen nicht müde wurde, Volkspartei. Das ist also, so sehen Höcke und Co. das,
ihr Wählerauftrag: den Willen des Volkes zu repräsentieren, und wenn schon nicht in der
Regierung, dann umso heftiger auf anderen Wegen. Von denen aber ist die
innerparlamentarische Opposition nur einer, und vielleicht nicht einmal der
wichtigste.

Wer verstehen
will, was es wirklich bedeutet, dass die AfD nun noch mehr Einfluss erhält in Thüringen
und Sachsen, der kann sich eine Veränderung der anderen Art anschauen – eine,
die schon seit Jahren passiert. Die Rede ist von dem Gebot der staatlichen
Neutralität und der Frage, wie dieses ausgelegt wird. Darüber braucht es eine
breite gesellschaftliche Debatte – oder überhaupt erst mal eine. Denn man kann
es kaum kleiner sagen: Auch an der Antwort auf diese Frage wird sich
entscheiden, ob die Demokratie, wie wir sie kennen, entweder gerettet wird.
Oder untergeht.

Das Gebot
besagt, eigentlich ganz schlicht, dass Staatsorgane im politischen
Meinungskampf neutral sein müssen, also Regierungsmitglieder genauso wie Beamte
– Verwaltungsmitarbeiter, Polizistinnen, Lehrer. Für Beamte ist die
Neutralitätspflicht im sogenannten Bundesbeamtengesetz festgehalten, in dem es
heißt, dass sie ihre Aufgaben „unparteiisch und gerecht“ zu erfüllen
haben. Bei politischen Amtsträgern folgt sie nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Grundgesetz, welches Parteien Chancengleichheit
garantiert.

Die staatliche
Neutralität ist gut und wichtig – soll sie doch dafür sorgen, dass Personen in
staatlichen Machtpositionen keinen Vorteil haben sollen, alle ihre Meinung frei
bilden können und der politische Wettbewerb fair verläuft.

Das Problem:
Beschäftigt man sich näher mit diesem Gebot und mit dem, was in den vergangenen
Jahren damit geschehen ist, sieht man, wie die AfD es nutzt, um den Rechtsstaat
vor sich herzutreiben.

AfD-Mitglieder
verschicken Anfragen an Behörden oder Ministerien, wenn Politiker, Beamtinnen
oder Behördenmitarbeiter sich kritisch gegenüber der Partei äußern – das ist
gerade in chronisch überlasteten, kleinen Behörden ein Problem. Daneben hat die
Partei schon vor einigen Jahren sogenannte Meldeportale online gestellt, auf
denen Schüler Lehrkräfte eintragen sollten, die sich angeblich nicht neutral
verhielten: Der Landesverband der AfD in Niedersachsen hat die jetzt quasi neu
aufgelegt, mit der Seite „Neutrale Lehrer“. Und manchmal zieht die
AfD auch vor Gericht. So hat sie zum Beispiel das Kultusministerium in
Niedersachsen verklagt, weil sich eine elfte Klasse in Osnabrück in einem
Theaterstück kritisch mit der AfD auseinandersetzte. Sie verlor.

Aber selbst
wenn sie verliert – eine Botschaft sendet sie damit so oder so, an alle
Behörden, Beamtinnen und Beamten, Schulen: Sobald sie die AfD kritisch
thematisieren, geraten sie in deren Fokus. Das schürt Unsicherheit; schüchtert
ein. Und je näher die Partei auch politisch an Machtpositionen kommt, desto
mehr.

Und sie hat
auch schon Recht bekommen. Das wohl einschneidendste Urteil in diese Richtung
ist eines des Bundesverfassungsgerichts zu einer Äußerung Angela Merkels: Als
Thomas Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsident von Thüringen gewählt wurde,
mit Stimmen der AfD, hat sie sich von Südafrika aus zu Wort gemeldet und
das „unverzeihlich“ genannt. Das Bundesverfassungsgericht urteilte
daraufhin, dass sie damit ihre Neutralitätspflicht verletzt habe, da sie nicht
als Parteipolitikerin gesprochen habe, sondern als Bundeskanzlerin. Die Klage
eingereicht hatte die AfD.

Dieses Urteil
ist juristisch umstritten – drei der
acht Richterinnen und Richter des Senats stimmten selbst dagegen. In einem
Sondervotum begründet eine von ihnen das damit, dass
Regierungsarbeit immer auch politisch sei und nicht neutral; und dass die
Bürger ohnehin nicht unterscheiden würden, in welcher Funktion ein Politiker da
spreche. Zudem bezog sich das Urteil auf Politiker, nicht auf Beamte. Trotzdem
hat es bei denen – das erfährt man, wenn man mit Menschen aus dem Bereich
spricht – noch größere Unsicherheit ausgelöst; die Sorge selbst ins Visier zu
geraten, etwas falsch zu machen. Denn was erlaubt ist, ist teilweise von
komplizierten Abwägungsfragen abhängig, die für Menschen ohne juristische
Kenntnisse schwierig zu beantworten sind.