Netflix-Serie „Kaos“: Fatale Folgen einer Gottesfalte
Die Arme schwungvoll von sich gestreckt, mit federndem Gang und einem nonchalanten Hüftschwung – so bewegt sich also jemand, der allmächtig und unbesiegbar ist. Denn Zeus, hier mit entsprechender Verve von Jeff Goldblum dargeboten, ist in der Erzählwelt von Kaos der unbestreitbare, allseits gefürchtete Herrscher über alle Götter und Menschen.
Von letzteren scheint er in seinem Kitsch-Palast hoch oben auf dem Olymp zwar weitgehend entrückt, kommt aber dennoch nicht umhin, hin und wieder ihre Loyalität zu prüfen. Am „Olympia-Tag“, dem höchsten Feiertag zu Ehren der Götter, verfolgt Zeus mit Göttergattin Hera (Janet McTeer) und Sohn Dionysos (Nabhaan Rizwan) im Fernsehen die Festivitäten auf Kreta mit. Das übliche Menschenopfer befriedet ihn kurz, aber eine Sache geht gehörig schief: „Fuck the Gods“ prangt als Schriftzug auf der soeben enthüllten Skulptur zu Ehren der olympischen Götter, die zudem mit Exkrementen besudelt ist. Als Zeus kurz darauf noch eine vermeintlich neue Falte auf seiner Stirn entdeckt, scheint das der Beginn seiner persönlichen Prophezeiung: „Eine Linie erscheint, die Ordnung ruiniert, die Familie fällt und Chaos regiert.“
Nun sind Prophezeiungen in bekannten Mythen selten wörtlich zu verstehen und häufig eher selbsterfüllend (man denke nur an den tragischen Ödipus). Prometheus (Stephen Dillane), der in gesetztem Ton durch diese mitunter sehr schrille Erzählung führt, während er an einen Felsen gekettet ist und erdulden muss, dass ein Adler an seiner Leber pickt, klärt über eine weitere Eigenheit der hier allen Menschen und Göttern zugedachten Weissagungen auf: Sie sind keineswegs immer einzigartig. Gleich drei Menschen haben dieselbe Prophezeiung wie Zeus erhalten – und ebendiese Menschen sollen den Sturz der Götter und das von Prometheus herbeigesehnte Chaos herbeiführen.
Einen sehr zeitgenössischen Blick wirft Charlie Covell, zuvor verantwortlich für die Skripte zur schwarzhumorigen Coming-of-Age-Serie The End of the Fucking World, auf die griechischen Mythen und liefert dabei eine unerwartet tiefgehende Auseinandersetzung mit diesen. Die skurrilen bis ungeheuerlichen Wendungen dieser Geschichten dekonstruiert Covell kritisch und detailverliebt für Kaos und spinnt aus einzelnen Erzählsträngen ein neues Garn, das auf die Hinterfragung uneingeschränkter Gottesmacht und untertäniger Gottesanbetung hinausläuft.
So ist eine der drei Figuren, die Zeus und seinesgleichen zu Fall bringen sollen, ausgerechnet die Mythengestalt Eurydike, deren tragische Beziehung zu Orpheus ganze Opern inspiriert hat. Doch in Kaos nennt sich Eurydike lieber Riddy (Aurora Perrineau) und ist der ständigen Liebesbekundungen seitens Popstar und Ehemann Orpheus (Killian Scott) ebenso überdrüssig geworden wie der sie umgebenden Gottesanbetung. Als ihr die Trojanerin Cassandra weissagt, dass sie Orpheus bald verlassen werde, ahnt Riddy noch nicht, dass ihr Aufbruch sie in die Unterwelt von Hades führen wird. Hier begegnet ihr mit Kaineus (Misia Butler) ein weiterer Rebell, der von der wahren Bedeutung seiner Prophezeiung nichts ahnt.
Als in schwarz-weißer Tristesse gehaltener Ort der bürokratischen Abfertigung aller Verstorbenen bildet der Hades einen willkommenen Gegenpol zum zunehmend wirren Treiben auf dem Olymp. Dort quält ein inzwischen ungehaltener Zeus seine Bediensteten und straft die Menschen mit Naturkatastrophen, während Dionysos sich eine selbstlose Mission auferlegt hat: Er will Orpheus in die Unterwelt bringen, damit der seine geliebte Riddy wieder zurückholen kann. Dass er damit die Macht von Zeus aufs Spiel setzt, ahnt Dionysos ebenso wenig wie dass ihn sein Weg früher oder später zu Ariadne (Leila Farzad), der Dritten im menschlichen Rebellenbunde, führen wird. Doch dieser müssen zunächst die Augen geöffnet werden hinsichtlich ihres Vaters Minos, der Kreta in enger Abstimmung mit dem Gott Poseidon regiert und sich einiges zuschulden kommen lassen hat.
Was in Netflix-Manier mit visueller und musikalischer Grellheit begonnen hat, führt Kaos schließlich zu einem Finale, das ein Auftakt zu einem echten Erzähluniversum sein könnte. Und obwohl die Lehren alter Mythen hier auf den Kopf gestellt werden, will man sich diese nach Kaos sogleich wieder zu Gemüte führen.