Nach Booker-Prize: Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ wird unbequem nach-rezensiert

Oje, was ist denn das? Da bekommt ein aktueller Gegenwartsroman – Kairos von Jenny Erpenbeck – den britischen Booker Prize in der Sparte International und wird im eigenen Land noch einmal kritisch nach-rezensiert. Als der Roman erschien, ließen die Jurys für den Deutschen Buchpreis und für den Leipziger ihn passieren. Jetzt, wo er zu Ehren im englischsprachigen Ausland aufgestiegen ist, nehmen die Kritiker, die er bisher nicht gerührt hat, sich ihn noch einmal vor.

Nicht übersehen, sondern nicht gewollt, wird geschrieben. Mit dem Fehlen Ostdeutscher in den meisten Jurys hat das nichts zu tun, wird gesagt. Deshalb nehmen sie sich auch jene vor, die den Roman und seine Autorin bisher gelobt haben. Die sind – als handelte es sich um eine Verschwörung – zweifelhafte „Unterstützer“.

Unbestritten sind die Vorgeschichte der DDR, ihr 40-jähriger, wechselvoller Weg und die Nachwirkungen der deutschen Wechseljahre in der Zahl der Veröffentlichungen ein Hauptthema deutscher Gegenwartsliteratur. Schon ab der zweiten Nachkriegs-Generation (nach Grass, Walser, Wolf) sind daran fast ausschließlich ostdeutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller beteiligt. Allerdings scheint es bis heute keiner Generation gelungen, eine Erzählung zu schaffen, die eine mehrheitsfähige Wahrheit des historischen Verlaufs wiedergibt. Offensichtlich ist die Hoffnung darauf Mitte der 2020er Jahre schwindend.

DDR – Was komplex und widersprüchlich war

Je größer der Abstand zu den historischen Umbrüchen wird, desto mehr nimmt die epische Kraft für große Gesellschaftsromane, die dazu notwendig wäre, verloren. Die Romane werden schmaler, die Wirklichkeitsausschnitte kleiner, das Interesse an oder die Fähigkeit zu Differenzierung dessen, was eigentlich komplex und widersprüchlich war, nimmt ab. Ein Beispiel ist Matthias Jüglers Roman Maifliegenzeit. Vielleicht barg das Warten auf die ultimative Erzählung den Irrtum in sich, dass Literatur Geschichte schreiben kann. Literatur ist keine Geschichtsschreibung.

Dennoch ist die Suche nach Deutungen der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung nicht abgeschlossen. Beweis dafür ist der Streit, den Jenny Erpenbeck für ihren Roman Kairos in dem Moment auf sich zog, als sie im Mai 2024 mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet wurde. Das Bild von der DDR und ihrem Ende, das der Roman zeichnet und das offensichtlich im englischsprachigen Ausland großen Beifall gefunden hat, sei – sagen ihre Kritiker – nicht das richtige.

Das Wegtauchen vor der Diktatur in eine romantische Boheme sei angesichts der Stasi-Repressionen eine unzulässige Fiktion, die aufrechtzuerhalten dem wahren Bild der DDR-Vergangenheit widerspricht und dem Schicksal vieler Opfer Hohn spricht. Aber nicht nur das, schrieb Adam Soboczynski in der Zeit: „Alle drei handeln vom Ringen der Ostdeutschen mit dem schlimmen Westen“. Mit „alle drei“ meint er außer Erpenbecks Roman Katja Hoyers Sachbuch Diesseits der Mauer (Hoffmann und Campe, 2023) und Brigitte Reimanns Wiederentdeckung mit dem Roman Die Geschwister (Aufbau, 2023).

Wie sieht das DDR-Bild in Kairos aus? Den größten Gedankenraum nimmt der Osten ein, denn die Hauptfigur Hans kann sich von ihren Prägungen aus den Zeiten von Faschismus und Stalinismus nicht befreien und schleppt sie mit sich bis über das Ende der DDR hinaus. Er sieht sich im Recht, Katharina für ihre Untreue zu bestrafen. Wer die Macht besitzt, vergibt oder nimmt Freiheit und Glück nach seinem Maß. Ein Krebsschaden des DDR-Sozialismus. Klingt wenig nach Verharmlosung.

Einige der neuen Kritiker von Erpenbecks Kairos-Roman zielen auf das Bild, das Katharina, die 34 Jahre jüngere Geliebte von Hans, von ihrer Besuchsreise in die BRD mitbringt. Die Bettler und Obdachlosen auf den Straßen zerstören ihr bisheriges Bild vom Westen. Vor allem ein Neugier-Besuch im Puff ist es, der in ihr Ekel aufsteigen lässt. Schon Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig hat in seinem Roman Das Provisorium die BRD als ein Land gezeichnet, dessen glitzernde Fußgängerzonen ihn vertreiben in die Einsamkeit der Nächte in Hotels mit Alkohol und Pornos.

Bei Jenny Erpenbeck umfasst die Episode der Westreise zur Großmutter, von der sie mit Ekel zurückkehrt, wenige Seiten von insgesamt fast 400. Deshalb muss der Zeit-Rezensent sie nicht bei Karl-Eduard von Schnitzlers von Hass auf den Westen verblendetem „Schwarzem Kanal“ suchen. Eigentlich wäre über Kairos als vom Roman einer fulminanten und zerstörerischen Liebe zu sprechen, an der zwei Menschen teilhaben, in die der Geist ihrer Generationen gefahren ist. Beim Gedanken, wie sehr Menschen Kind ihrer Zeit sind, kommt der Westen als Referenzebene gar nicht vor. Hans gehört in die Zeit vom Anfang der DDR, Katharina steht an ihrem Ende. – So wäre meine Lesart. Sie zeigt einen Roman mit der letzten Innensicht der DDR. Gut, ab der Buchmitte meldet sich siegesgewiss der Westen.

Weil die DDR deutlich im Spiegel erscheint, fällt mir ein Vorkommnis aus der DDR-Geschichte ein, das selbstverständlich keine Referenzebene für die neuen Kritiken am Erpenbeck-Roman bildet, aber erzählt werden kann: das berühmt-berüchtigte Kahlschlagplenum der SED von 1965. Damals wurde kritischen Künstlern Nachhilfeunterricht beim Erkennen der Realität erteilt – natürlich jener, an die sich die SED klammerte. Das damalige Politbüromitglied Paul Verner warf Volker Braun vor, in seinem Stück Die Kipper mit „falschen und verbildeten Augen unsere Wirklichkeit“ zu sehen.

So wie Braun seine literarische Figur Paul Bauch gezeichnet hatte, haben sich die Funktionäre einen Arbeiter nicht vorgestellt. Die Ablehnung, die Braun erfuhr, traf auch die Figur des Balla in Roman und Film Spur der Steine von Erik Neutsch und – nach Vorveröffentlichung des ersten Kapitels – den Roman Rummelplatz von Werner Bräunig. Nun sollen solche bitterbösen DDR-Verhältnisse nicht herhalten, um zu zeigen, wie Kritiker 2024 bei Jenny Erpenbeck ebenfalls eine falsche Realität gefunden haben wollen. Begründet wird der Falschblick von einem Kritiker damit, dass die Autorin doch bedenken müsse, dass sie in einer „kommunistischen Parallelwelt mit allen möglichen Privilegien“ aufwuchs. Sie hatte das Glück schon ein Jahr vor dem Mauerfall in Italien zu leben. „Das DDR-Gefängnis erscheint in einer solchen Perspektive wohlfühliger, annehmbarer“, schrieb llko-Sascha Kowalczuk in der taz, um Erpenbecks Realitätsverluste zu erklären.

Übrigens: Wenn Historiker über Literatur urteilen, werden sie darin höchstens Teile ihrer Geschichtsbilder finden. Literatur bewegt sich in der Welt des Möglichen. Abschließende Urteile über die deutsche Teilungs- und Vereinigungsgeschichte überlässt sie in sinnvoller Arbeitsteilung dem Historiker. Manchmal kann nicht einmal der – gemeint ist der Historiker als Spezies, nicht der hier genannte – sie liefern, ohne dass Kollegen ihm widersprechen.

Die Sorge der Kritiker angesichts von Jenny Erpenbecks Roman Kairos und Katja Hoyers Sachbuch Diesseits der Mauer gilt der möglichen Verharmlosung der DDR. Findet tatsächlich Verharmlosung statt? Geht es Erpenbeck nicht um anderes? Geht es den Kritikern vielleicht auch um anderes? Bei der Bewertung ihres Romans Kairos zielen die Kritiker vermutlich noch etwas weiter, nämlich auf die Sicht der Autorin mit ihren „kommunistischen Wurzeln“ auf die deutsche Einheit.

Streits dieser Art und in dieser Deutlichkeit – kurioserweise durch die Vergabe eines renommierten Literaturpreises ausgelöst – gehören über die Mitte der 2020er Jahre hinaus sicher bald der Vergangenheit an. Denn ein neuer Romantyp kündigt sich an. Für Paula Irmschler (Jahrgang 1989, geboren in Dresden) sind in ihrem zweiten Roman mit dem Titel Alles immer wegen damals (dtv, 2024) Männer von drüben „Männer auf der anderen Straßenseite“.

Es gibt im Roman gelegentlich die Wahrnehmung eines anders funktionierenden Alltags in Ost und West, denn Karla, die Leipzigerin, lebt in Köln und Gerda, die Mutter, in Leipzig. Schließlich heißt der Roman Alles immer wegen damals. Irmschler kommt ohne Suche nach Schuld, ohne Anklage aus, wenn dem Ossi Wege zum Glück länger vorkommen. Sie zieht aus dem „Damals“ des Romantitels anderes. Vielleicht steckt in Karla, heißt es im Roman, „leider auch noch immer ein unaufgeschlossener Ossi, der skeptisch gegenüber allen ist, die ihr fremd sind, also alle, die sie kürzer kennt. Wann wird sie endlich zur Kölnerin und schmatzt alle ab?“

Hier löst sich der mit politischen Urteilen und Vorurteilen aufgeladene Ost-West-Konflikt auf in das Registrieren von charakterlich-mentalen Prägungen, wie sie auch zwischen Norddeutschen und Süddeutschen bestehen. Man könnte meinen, mit Paula Irmschlers Roman habe die Eroberung selbstverständlicher Deutschlandbilder in der Literatur begonnen. Es lässt Leser und Literaturkritiker tief durchatmen. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stehen mit solchen Romanen beim Thema deutsche Einheit die Zeichen auf Entspannung.