Myanmar | Kindersoldaten stillstehen gen beiden Seiten welcher Front in Myanmar
In mancher Hinsicht ist Anina ein typischer Teenager. Sie liebt ihren Freund, Comics und Fußball – ihr Lieblingsverein ist Manchester City. Bis vor Kurzem erhellten Tanzvideos auf Tiktok ihre Tage. „Egal, welche Art von Tanzen“, erzählt sie. In anderer Hinsicht hat Aninas Leben gar nichts mit dem anderen Teenager zu tun: In einem seit dem Putsch der Obristen vor vier Jahren erbittert geführten Bürgerkrieg werden auf allen Seiten Kinder als Soldaten rekrutiert und eingesetzt. So auch Anina, mit 18 Jahren die einzige Kämpferin in einer sonst rein männlichen Widerstandseinheit. Anina ist gefürchtet, ihr Ruf legendär.
Wir reden kurz vor ihrem 18. Geburtstag miteinander, sie geht an Krücken, weil sie sich auf der Flucht vor einem Luftangriff der Nationalarmee Myanmars den Knöchel verdreht hat. Anina kämpft in der Chin-Miliz gegen die herrschende Militärjunta, von ihrer Jugend blieb nicht viel übrig. Die Teenagerin wurde zur Scharfschützin ausgebildet, zweifellos eine Herausforderung für die patriarchale Ordnung der Rebellen. Im Gefecht hat Anina mehr Männer getötet, als sie aufzählen möchte. „Ich hasse es, wenn Leute damit angeben, wie viele sie getroffen haben. Bei mir waren es schon einige, aber nach den ersten drei habe ich aufgehört zu zählen.“
Die Junta zurückdrängen
In der Stadt Falam, im Westen von Myanmar, zählt Anina – das ist ihr „nom de guerre“ – zu einer Hundertschaft von Kombattanten, die den letzten Stützpunkt des Juntamilitärs in dieser Gegend belagern. Ihre Treffsicherheit hat ihr in einer Gruppe von Menschen Respekt verschafft, in der junge Frauen in der Regel als zu schwach für den Ernst des Lebens abgetan werden, auch wenn Kinder, Mädchen und Jungen gleichermaßen, rekrutiert werden. Ihre Maxime lautet – so Anina: Lass nicht zu, dass man auf dich herabschaut oder was auch immer tut, weil du eine Frau bist.
Falam ist die einstige Hauptstadt des Chin-Staates, einer vornehmlich christlichen Region an der Grenze Myanmars zu Indien. Die vollständige Einnahme des Ortes wäre ein Meilenstein im bewaffneten Kampf für die Rückkehr zur Demokratie. Für die Chin National Defense Force (CNDF) wäre es das erste Mal, dass bewaffnete Widerstandskämpfer ohne Unterstützung etablierter ethnischer Militäreinheiten eine solche Stadt einnehmen. Die Chin-Kämpfer wollen die Junta-Armee zurück in Myanmars buddhistisches Kerngebiet drängen und sie dort besiegen. Allerdings haben sie es mit einem Feind zu tun, der mit chinesischen und russischen Kampfjets ausgerüstet ist, größere Städte, Überlandtrassen und Flughäfen kontrolliert, dazu Verluste auf dem Schlachtfeld mit Gräueltaten beantwortet.
Sie habe in den vergangenen Monaten viele Freunde verloren, erzählt Anina, als eine Transportmaschine der Junta, eskortiert von zwei Düsenjägern, über sie hinwegdonnert. Von den Kameraden wird die junge Frau Anina genannt (auf burmesisch: „in der Nähe“), weil sie damit dem Gefühl Ausdruck geben wollen, ihre Gegenwart selbst dann zu spüren, wenn sie nicht da ist. Wie sie wirklich heißt, hält sie geheim, um die eigene Familie zu schützen.
Es geschieht nicht zum ersten Mal in Myanmar, dass Kinder und Jugendliche in bewaffnete Konflikte hineingezogen werden. Seit Jahrzehnten ist es üblich, dass Minderjährige sowohl vom regierenden Militär als auch durch ethnische Milizen rekrutiert werden, die für ihre Autonomie kämpfen. Im Juni 2022 dokumentierte der Jahresbericht des UN-Generalsekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten 280 bestätigte Fälle von Kinderrekrutierung in Myanmar: 260 Jungen und 20 Mädchen, einige davon erst zwölf oder dreizehn Jahre alt. Davon wurden mit 222 die meisten Fälle Myanmars Armee zugeschrieben, während der Rest verschiedenen Gruppierungen des Widerstandes anzurechnen war.
Placeholder image-1
Nach dem Militärputsch Anfang Februar 2021 hat sich die Lage nochmals verschlimmert. Laut UN-Erhebung wurden seit dem Staatsstreich im Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr 382 Kinder von den Militärs und ihren Verbündeten getötet, dazu 142 gefoltert. Zugleich wurden in dieser Zeit Berichten zufolge mehr als 1.400 Kinder willkürlich festgenommen, darunter auch solche, die an Protesten teilgenommen hatten oder verdächtigt wurden, dies getan zu haben.
Zum Kochen eingeteilt
In Falam ziehen die mit einem indischen Scharfschützen-Gewehr ausgerüstete Anina und andere Chin-Kombattanten durch die Berge auf der „Jagd nach Feinden“, wie sie es nennen. Sie bewegen sich schweigend und schnell, schießen aus 50, dann wieder aus 700 Metern Entfernung. Sie bleiben nie stehen. Das hieße den Tod riskieren durch den Beschuss mit Panzerfäusten, durch Artillerie oder feindliche Scharfschützen. „Wir haben von dem jungen Mädchen gehört, das eine hervorragende Scharfschützin sein soll“, erzählt ein gefangener Junta-Soldat. „Wir wissen, dass Heckenschützen wie sie gefährlich sind. Sie können in einer Nacht mehrere Soldaten töten.“
Schießen lernte Anina schon als Kind. Damals begleitete sie ihren Vater auf der Hirschjagd in der Nähe ihres Dorfes. „Ich fürchte das Geräusch der Waffe nicht“, sagt sie. „Mein Vater hat mir gezeigt, wie man sich auf das Ziel konzentriert.“ Mit 14 Jahren schloss sie sich dem Aufstand an, nachdem das Militär im ganzen Land das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffnet hatte. Obwohl sie gut schießen konnte, war sie andererseits jung und ein Mädchen. Deshalb fand sie sich von den Rebellen zunächst zum Kochen eingeteilt. Aber Anina wollte so eingesetzt werden, dass sie die Frauenfeindlichkeit des Militärs und der Milizen in Frage stellen konnte. „Uns wurde gesagt, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden. Aber als wir an die Front gingen, sollten die Mädchen kochen. Ich koche nicht gern.“
Ihre Ausbildung zur Scharfschützin begann mit Azad, der aus dem Süden der USA kam, sich als „linken Internationalisten“ bezeichnete und vier Jahre lang in den kurdischen Streitkräften im Norden Syriens verbracht hatte, bevor er sich 2024 dem Widerstand in Myanmar anschloss. Mit diesem Ausbilder erreichte Anina als 17-Jährige die besten Ergebnisse im Schießtraining. Einer der wenigen, der genauso gut traf wie sie, war Obed, der im November 2024 ums Leben kam. Der 24-jährige Azad erinnert sich an Aninas Entschlossenheit während der Ausbildung. Einmal, als der Rückstoß des Gewehrs ihre Stirn verletzte, befürchtete er, die Kugel sei im Magazin explodiert. „Sie hatte überall Blut im Gesicht und war bewusstlos. Minuten später wachte sie wieder auf, wischte das Blut weg, zielte erneut und traf wieder.“
Azad sieht den Kampf in Myanmar als „Revolte gegen das Musterbeispiel einer Staatsmacht, die zum Faschismus tendiert. Wir erleben einen Aufstand, den das menschliche Unvermögen der Obristen antreibt. Für die Menschen weltweit sollte das eine Quelle der Hoffnung sein.“ Für Anina war es zunächst überraschend, in dieser abgelegenen Bergregion einen ausländischen Kämpfer wie Azad zu treffen. „Er möchte, dass wir uns die gleiche Freiheit erkämpfen, von der auch die Kurden in Syrien träumen.“
Ein Teddy in der Schutzweste
In Aninas Schutzweste steckt ein kleiner Teddybär. Eine normale Schulbildung hat sie verpasst. Sie weigerte sich, auf Schulen zu lernen, die unter Aufsicht der Militärjunta stehen. „Ich vermisse nichts und hasse Mathematik.“ Sie lerne lieber, was sie über Ballistik und die Reichweite von Gewehren, über den Wind und das Gelände wissen müsse. „Scharf schießen ist das, was ich am liebsten mag“, sagt sie. „Daher macht es mir nichts aus, heute vor allem das zu lernen.“ Sie dient derzeit in der Einheit von Olivia Thawng Luai, die früher nationale Karate-Meisterin war. Olivia besteht darauf, dass die CNDF nur mindestens 18-Jährige in den Kampf schickt. Aber junge Kader wie Anina würden sich anderen Gruppen anschließen, sollte man sie ablehnen. „Wir haben das Mädchen gedrängt, weiter zur Schule zu gehen. Leider konnten wir sie nicht überzeugen“, sagt Aninas Vorgesetzte. „Sie war in der Ausbildung nun einmal die beste Schützin. Daher ließen wir sie eine Waffe tragen.“ Eigentlich sollten Kinder nicht kämpfen, fügt Olivia hinzu, „sondern gut ausgebildet sein und unser Land entwickeln. Sie sollten Träume haben und ihnen folgen. Stattdessen harren sie hier in den Wäldern aus und kämpfen gegen das Militär. Das macht mich traurig.“
Obwohl Anina bei ihrem ersten Einsatz im Kampf um Falam im November 2024 durch ein Schrapnell am Arm verwundet wurde, blieb sie bei ihrer Entscheidung, im Kampf zu stehen. „Ich bin und ich bleibe an der Front. Meine Kameraden erkennen das an und behandeln mich wie eine Gleichberechtigte.“ Die bekannte burmesische Demokratie-Aktivistin Thinzar Shunlei Yi meint, dass Frauen sich „doppelt anstrengen müssen, um ernst genommen zu werden, obwohl der Konflikt alle in Myanmar zwingt, Gender-Rollen zu überdenken“. Kürzlich wurde berichtet, dass die regierende Junta plant, Frauen einzuberufen, um die dezimierten eigenen Reihen aufzufüllen. Thinzar Shunlei Yi richtet den Blick voraus. „Wenn Frauen gut genug sind, um für die Freiheit zu kämpfen und zu sterben, sollten sie auch gut genug sein, um in einem künftigen Myanmar Führungspositionen zu übernehmen.“
Aninas Freund, der 20-jährige Vak Vei, ist ebenfalls Scharfschütze in ihrer Einheit und hat von den nächtlichen Einsätzen blutunterlaufene Augen. Sie würden sich umeinander sorgen und Trost darin finden, dass es so ist. An ihren Knöcheln tragen beide die gleichen Bänder, die aus dem Rebellenlager stammen, in dem sie sich vor zwei Jahren kennengelernt haben. Anderen Bindungen ist Abstand auferlegt. Anina hat ihre Familie seit einem Jahr nicht mehr gesehen und ihr Telefon auf Flugmodus gestellt, um Anrufe zu vermeiden. „Ich vermisse sie. Manchmal möchte ich nach Hause gehen“, erklärt sie. „Aber wenn ich zurückkehre, werden meine Eltern mich nicht wieder gehen lassen. Ich bleibe, bis wir gewinnen.“
Für Mädchen und junge Frauen habe sie besonders eine Botschaft, so Anina: „Lass nicht zu, dass man dich demütigt oder dich schlägt, weil du eine Frau bist. Wehr dich. Wenn du geschlagen wirst, dann schlag zurück.“ Im Augenblick verbringt die 18-Jährige ihre Zeit in Bombenkratern und verlassenen Häusern, in Unterständen und Lagern im Wald. Ihre Welt ist auf diese Orte beschränkt. „Gerade sehe ich nicht wie jemand aus, der gern tanzt“, sagt sie mit einem Blick auf ihre Krücken. „In letzter Zeit ist mir nicht nach Tanzen zumute.“
Lorcan Lovett berichtet als Freelancer aus Myanmar, Thailand, Vietnam und Malaysia für den Guardian und andere Blätter