Musikfest Berlin: Das Klangideal des Amalgams

Von zwei Konzerten im Rahmen des Berliner Musikfests, die ich am vorigen Wochenende im Kammermusiksaal der Philharmonie besuchte, möchte ich hier berichten. Das erste war vor allem der US-amerikanischen Komponistin Ruth Crawford Seeger gewidmet, es war eines von drei Konzerten des Ensembles Modern, geleitet von David Niemann, das ihrer Portraitierung diente. Seeger, 1901 geboren, 1953 gestorben, hatte zunächst in Chicago und New York studiert, wo sie sich unter anderm mit Edgar Varése austauschen konnte, ein Guggenheim-Stipendium gab ihr dann aber auch Gelegenheit, nach Europa zu reisen, wo sie Maurice Ravel, Béla Bartók und Alban Berg kennenlernte.

Ihr Lied Home Thoughts (Zuhause) von 1929 wurde im ersten Seeger-Konzert, bei dem ich nicht anwesend war, von Amanda Becker gesungen, und ich entnehme dem Programmheft, dass es ein Schlüssel ist. „Ein einzelner Ton im Klavier erscheint, dann kommen jeweils eng benachbarte Töne hinzu“, lese ich. Und über die schon 1926 komponierte Music for Small Orchestra, die ich am Samstagnachmittag hörte: „Wieder steht zunächst ein einzelner Ton im Klavier existenziell alleine im Raum.“ Er wird „minimal rhythmisch verlängert, drängt und bremst doch zugleich. Dissonant legen sich die anderen Instrumente brütend schwül darüber.“ Arno Lücker, der das schrieb, hat sich wie ich gefragt, was er da eigentlich hörte; für mich war es nicht brütend noch schwül, sondern das Zugehörbringen einer allerdings dunklen Farbe. Und eben das wird in jenem Lied, das Carl Sandburg dichtete, zum Ausdruck gebracht: „The sea rocks have a green ross“, beginnt Home Thoughts. „The pine rocks have red berries. / I have memories of you.“ „Speak to me of how you miss me. / Tell me the hours go long and slow.“ „Speak to me…“

Eng benachbarte Töne, Instrumente, die sich „über“ andere Instrumente „legen“: Was herauskommt, sind ungewöhnliche Klangmischungen in der Komposition jeweils schmaler, meist eher tiefer Tonhöhenausschnitte, die den Höreindruck des Verlaufs in einer bestimmten Höhe, zugleich eine schwerfällige, eher mitlaufende als hervortretende Differenziertheit derselben erzeugen und damit eben das Gefühl, man höre eine Farbe zu – so wie man von Bäumen in der Dämmerung sagen kann, sie zeigten ein schweres Grün. Nicht nur in der Music for Small Orchestra hat Seeger so komponiert, sondern auch in der Suite Nr. 1 (1927) für fünf Bläser und Klavier und der Suite Nr. 2 (1929) für vier Streicher und Klavier, die ebenfalls am Samstagnachmittag zu hören waren. Ich glaube nicht, dergleichen vorher schon einmal gehört zu haben. Der Eindruck ist überwältigend – Seeger ist eine große Komponistin.

Wie es uns erscheint

Ihre Musik regt dazu an, darüber nachzudenken, was man eigentlich meint, wenn man von musikalischer Farbe spricht. Man kommt zunächst zu dem Schluss, dass der Ausdruck „Farbe“ vollkommen angemessen ist. Wenn von den Farben, die der Sehsinn wahrnimmt, die Rede ist, wissen wir, dass sie als „sekundäre Eigenschaften“ der gesehenen Dinge bezeichnet wurden, von dem Philosophen John Locke wohl zuerst, und das deshalb, weil sie nicht in den Dingen selbst liegen, sondern die Art sind, wie das Licht aufs menschliche Auge wirkt; physikalisch ausgedrückt ist es die elektromagnetische Strahlung der Wellenlänge zwischen 400 und 780 Nanometern, die wir als Palette verschiedener Farben wahrnehmen. Das heißt, Farben sind, mit dem Philosophen Immanuel Kant gesprochen, das Licht, nicht wie es „an sich“ ist, sondern wie es uns „erscheint“. Wobei diese Erscheinung kein falscher Schein ist, sondern uns das Wahre vermittelt, nur eben übersetzt in die Sprache unserer Augen. Und gar nicht anders ist es in der Musik: Auch da sind es Wellenlängen, die uns erreichen, die wir aber nicht als Wellenlängen hören, sondern übersetzt in die Sprache unserer Ohren. Man nennt diese Übersetzung Klänge und es ist klar, sie kommen genauso zustande wie die Farben des Sehsinns. So wie das Kamel das Schiff der Wüste ist, ist der Klang die Farbe des Hörsinns.

Fügen wir noch hinzu, dass auch physikalische Wellen kein „Ding an sich“ sind, sondern die Art, wie etwas uns „erscheint“, und das heißt jetzt: nicht wie es den Sinnen erscheint, sondern einem Denken, das sich innerhalb gewisser Fragestellungen bewegt.

Wir stellen dann weiter fest, dass es noch zu unspezifisch ist, „den Klang“ überhaupt als auskomponierte musikalische Farbe zu betrachten. Denn jedes Instrument in einem Orchester hat einen bestimmten Klang und damit seine bestimmte Farbe, ohne dass man deshalb sagen würde, wenn, zum Beispiel, jemand eine Flötenmelodie komponiere, geschehe das in der Absicht, eine Farbe zu komponieren. Nein, man wird die Komposition einer Melodie eher eine Zeichnung nennen, nur dass, anders als wenn für den Sehsinn gezeichnet wird, die Zeichnung per se schon auch farbig ist. Das Phänomen, dass Farben als solche im Mittelpunkt kompositorischer Absicht stehen, ist wohl zuerst bei Richard Wagner aufgetaucht, erreicht eben durch die ungewöhnliche Mischung der Klänge verschiedener Instrumente. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat sich darüber geärgert, es erschien ihm als Verundeutlichung eigentlicher Musik – als irrational. Er wollte Arnold Schönberg, den Pionier der Zwölftonmusik, gegen Wagner ausspielen; bei Schönberg vereinen sich die einzelnen Instrumente polyphon, bleiben also distinkt. Aber Schönberg selbst hat sich für „Farben“ interessiert, so heißt ja das Mittelstück seiner Fünf Orchesterstücke op. 16, das freilich verglichen mit Seegers Farben nur ein elementarster Anfang ist, der kaum schon ahnen lässt, welches Potential in diesem Thema liegt.

Wagner hat den Anfang gemacht, Schönberg hat das Thema als solches erkannt, bei Seeger ist es ausgeführt mit solcher Wucht, dass man erst begreift, was die komponierte musikalische Farbe bedeutet: Sie ist nicht mehr die Farbe eines Instruments! Sie war es schon bei Wagner nicht mehr, der hat sie aber noch eingesetzt, um bestimmte literarische Inhalte, die in seinen Musikdramen gerade gesungen wurden, musikalisch zu charakterisieren. Auch diese Bindung fällt bei Seeger noch weg. Und damit entsteht etwas Neues, das im Bereich des Sehsinns keine Entsprechung mehr hat: Farben, die nicht mehr die Farben von Dingen sind, was musikalisch heißt, die nicht mehr bestimmte Musikinstrumente charakterisieren. Farben von etwas, das es gar nicht gibt! Noch nicht gibt, vielleicht. Die Farben in Home Thoughts, von denen Seeger musikalisch spricht, und von denen sie will, dass sie zu ihr sprechen, sind ganz bestimmt solche von See- und Kiefernfelsen aus einer verlorenen Zeit, aber auch an Paulus mag sie denken, der schrieb: „Unsere Heimat ist im Himmel.“ Noch einmal, Ruth Crawford Seeger ist eine große Komponistin.

Langsam zur Objektlosigkeit

Ein Höhepunkt des diesjährigen Musikfests war auch die Aufführung der Klarinettenquintette von Wolfgang Rihm und Wolfgang Amadeus Mozart am Sonntagnachmittag. Mozarts „Stadler-Quintett“ (A-Dur KV 581), benannt nach dem Klarinettisten, der es im Dezember 1789 mit uraufführte, klingt recht melancholisch, hier aber bilden Farbe und Zeichnung eine Einheit, die man nicht auseinanderlegen und einem Bestandteil den Primat zusprechen möchte. Die Distinktheit der Instrumente war gewahrt, auch der verschiedenen Streicher im Streichquartett und ihm gegenüber die Klarinette, aber vier Streicher gegen ein anderes Instrument erscheinen auch ein wenig als komponierte Farbe, zumal wenn die Klarinette sich gelegentlich in ihren Klang einfügt. Trotzdem, so weit geht es nicht, dass man Farben hörte, objektlose, die nicht Farben bestimmter Instrumente wären. Kompositionen wie solche von Mozart zeigen sehr deutlich, dass Musik keine Sache bloß des Gefühls, sondern auch des Verstandes ist, denn was ich Zeichnung genannt habe, ist eine geordnete musikalische Form, eine Folge einzelner musikalischer Äußerungen, die sich quasilogisch auseinander entwickeln, wobei gewisse Muster befolgt aber auch verändert werden, aber diese Zeichnung ist eben, wie gesagt, von Klang nicht zu trennen und der Klang wirkt zuerst aufs Gefühl. Man könnte sagen: Wenn es, wie später bei Seeger, um die Komposition vordringlich des Klanges geht, dann wird gezeigt, dass Gefühl selbst schon Verstand ist, oder sein kann.

Wolfgang Rihm, der am 27. Juli dieses Jahres verstarb, hat seine im März 2003 uraufgeführte Komposition Vier Studien für Klarinettenquintett genannt, worin sich wohl auch eine Bescheidenheit der langen Reihe berühmter derartiger Quintette von Mozart über Johannes Brahms und Max Reger bis hin zu Paul Hindemith und Isang Yun ausdrückt. Musikalische Farbe steht bei Rihm im Vordergrund, aber anders als bei Seeger. Im Programmheft spricht Barbara Eckle zunächst davon, Rihm zelebriere „ganz nach dem Vorbild Mozarts das vollkommene Amalgam von Bläser- und Streicherklang“; gemessen an Seegers „Amalgamen“ ist das noch zu pauschal gesagt. Dann schreibt sie, „das Klangideal des Amalgams, der Verschmelzung zwischen Klarinette und Streichern“, halte sich bei Rihm „zunächst durchaus an das Vorbild Mozarts“, dann aber verlasse er „mit diesem Werk seine bisherige Tendenz, die Musik als Objekt, als Klangskulptur zu verstehen“.

Das ist nun sehr präzise ausgedrückt. Rihm macht einen Schritt in Richtung objektloser Farbkomposition, und so hört man es auch, obwohl der Eindruck gänzlicher Objektlosigkeit, wie bei Seeger, noch nicht entsteht. Im ersten Satz, schreibt Eckle, werden „die Klangcharaktere zart gegeneinandergestellt“, bis der „Dialog“ „langsam zu einer Kantilene verschmilzt“, im dritten lasse Rihm „wie in Zeitlupe die Linien miteinander verwachsen“. Man hört also Klangmischung nicht schon als Zustand, sondern als Prozess, der zu ihr hin will. Besonders der dritte Satz teilt überwältigend ein Gefühl mit und zwar, da das vollendete Amalgam noch nicht erreicht ist, als noch eher unreflektiertes. Eckle hört „lyrische Erlösung“, das trifft es, man könnte schärfer von Todessehnsucht sprechen, so habe ich es gehört. Das ganze Werk war wie der Versuch, ruhig zu werden, er kam aber nicht zum Abschluss, denn immer wieder drängten sich auch Momente der Unruhe vor. Man konnte daran denken, wie Augustinus vom Himmel spricht, „vacabimus“, „dann werden wir stille sein“, oder leer sein, nichts sein, wie das Vakuum.

Nebenbei ist es bemerkenswert, wie in der deutschen Kompositions-Geschichte die Tendenz sich hält, gefühlvoll zu komponieren, auch nachdem die Tradition tonalen Komponierens verlassen wurde. Alban Berg hat Gefühle komponiert, dann Hans Werner Henze – gegen die wütende Ablehnung eines Pierre Boulez, der einmal ein Henze-Konzert nach ein paar Minuten im Protest verließ -, dann Rihm. Das ist auch gut so, denn wie gesagt, Gefühle sind nicht das Gegenteil des Verstandes, sondern erweitern ihn.

Die Solistin und die Solisten des Rihm-Mozart-Konzerts waren Mitglieder der Berliner Philharmoniker: Andraz Golob, Klarinette, Harry Ward und Angelo de Leo, Violine, Tobias Reifland, Viola und Solène Kerrmarrec, Violoncello. Ich habe diesmal nur wenige Konzerte des Musikfests besuchen können, verlasse es aber, wie immer, mit größter Bereicherung.