Mosab Abu Toha: „Ein Gedicht hilft uns, unter die Trümmer zu steigen“

In seinem neuen Lyrikband „Forest of Noise“, der bislang nur auf Englisch vorliegt, erzählt der palästinensische Schriftsteller und Essayist Mosab Abu Toha in Gedichten vom Krieg in seiner Heimat, dem Gazastreifen. Der 32-jährige Abu Toha, der im Geflüchtetenlager Dschabaliya geboren wurde, ist nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Einmarsch Israels in den Gazastreifen zusammen mit seiner Frau und den gemeinsamen drei Kindern geflohen. Sie hatten zuvor in Beit Lahiya gelebt, im Norden des Gazastreifens.

ZEIT ONLINE: Mosab Abu Toha, vor mehr als einem Jahr schrieben Sie im New
Yorker
über Ihre Flucht aus dem Gazastreifen, Ihre kurzzeitige Inhaftierung durch das
israelische Militär und Ihre Ankunft in Kairo. Heute leben Sie mit Ihrer
Familie in den USA, veröffentlichen auf Social Media beinahe täglich Videos aus dem Gazastreifen, sprechen
öffentlich über die Situation vor Ort. Haben Sie das Gefühl, den Gazastreifen jemals
verlassen zu haben?


Mosab Abu Toha: Mosab Abu Toha, hier noch in Kairo im April 2024, bevor er mit seiner Familie in die USA zog

Mosab Abu Toha, hier noch in Kairo im April 2024, bevor er mit seiner Familie in die USA zog

Mosab Abu Toha: Als ich noch im Gazastreifen lebte, war ich Zeuge der Zerstörung
meines Volkes. Meine Familie wurde getötet, meine Freunde, meine Nachbarn,
meine Stadt. Dann war ich in Ägypten und habe all das weiterhin beobachtet. Und
jetzt bin ich hier in den Vereinigten Staaten, etwa 5.000 Meilen entfernt, und
sehe all das immer noch. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht herzzerreißende Nachrichten über Freunde, deren Familien oder meine eigenen Verwandten
höre.

ZEIT ONLINE: Trotzdem haben Sie weiter geschrieben. Gibt es
etwas, das Sie in Lyrik ausdrücken können, was sie sonst nicht ausdrücken könnten?

Abu Toha: Lyrik ist eine Möglichkeit, wie ich als Mensch über meine Erfahrungen
sprechen kann oder über die Erfahrungen von Menschen, die mir am Herzen liegen.
Wie ich fürchte, dass das, was diesem einen Mädchen passiert ist, auch meiner
Tochter hätte passieren können. Was würde ich als Vater tun, wenn ich unter den
Trümmern läge, noch nicht durch den Luftangriff getötet, und ich die Schreie
meiner Tochter im anderen Raum hören würde, wie sie nach mir ruft: „Papa. Papa,
ich bin eingeklemmt. Papa, hilf mir. Ich blute.“ Poesie hilft mir, über die
Ängste und Albträume zu sprechen.

ZEIT ONLINE: Wie schaffen Sie es, sich immer wieder dem Leid, das
Sie miterleben, in Ihren Gedichten zu stellen?

Abu Toha: Viele Schriftsteller sind traumatisiert, können nicht mehr so schreiben
wie früher. Für mich macht ein Schriftsteller die gleiche Arbeit wie eine
Mutter, wenn sie Brot für ihre Kinder in einem Zelt backt, obwohl es kein
Brennholz gibt, kein Weizenmehl. Eltern kämpfen darum, ihre Kinder zu ernähren.
Ärzte kämpfen darum, ihre Patienten zu behandeln. Diese Menschen – ob Ärzte,
Krankenschwestern, Journalisten, Schriftsteller, Eltern oder Lehrer – machen
auf die eine oder andere Weise weiter mit ihrer Arbeit. Man könnte ihnen
dieselbe Frage stellen: Arzt, wie schaffst du es, deine Patienten weiterhin zu
behandeln? Mutter, wie schaffst du es, dich weiterhin um deine Kinder zu
kümmern? Ich denke, dass es für einen Schriftsteller oder Künstler im
Allgemeinen genauso ist: Es ist ein Versuch, die Arbeit fortzusetzen, das,
worin man gut ist, weiterhin zu tun – in Worte zu fassen, was andere nicht
sehen und sie nur schwer fühlen können. Ein Dichter leistet eben diese Arbeit.

ZEIT ONLINE: Würden Sie sagen, dass das Schreiben auch eine Art
ist, die Erfahrung von Gewalt in eine andere Form zu übersetzen und für andere
verständlich zu machen?

Abu Toha: Ja. Ich glaube, dass Poesie hilft, nicht nur die Leute, die Gegenstand
des Gedichts sind, zu vermenschlichen, sondern auch die Dinge und anderen
Lebewesen, die jahrelang mit diesen Leuten dort waren. Wenn ich über einen
Luftangriff schreibe, spreche ich nicht nur darüber, dass ein Haus über den
Köpfen der Menschen eingestürzt ist, sondern auch über die Kätzchen, die dort
lebten. Über die Tatsache, dass ich nicht wusste, dass die Katze meiner
Nachbarn in der vorherigen Nacht Junge bekommen hatte. Poesie hilft, Menschen
nicht nur als Zahlen zu sehen. Sie öffnet den Blick für die Details eines
Lebens. Das ist das Erschütternde an der Poesie: Ein Gedicht hilft uns, unter die
Trümmer zu steigen und Dinge zu sehen, die sonst unsichtbar blieben.

ZEIT ONLINE: In einem Ihrer Gedichte, My
Library
, heißt es: „My books remain on the shelves as I left them last
year, but all the words have died.“

Abu Toha: Das stammt aus meinem neuen Buch. Das Gedicht, das ich meinte, ist in meinem
ersten Buch
. Es heißt On a Starless Night. Ich habe es auch
auf Instagram gepostet: „On a starless night, / I toss and turn. / The
earth shakes, and / I fall out of bed. / I look out my window. The house /
next door no longer / stands. It’s lying like an old carpet / on the floor of
the earth.“
Ich
glaube dann habe ich etwas über die Wandfarbe geschrieben, über das Kind und
über die Katze, die Junge bekommen hat.

ZEIT ONLINE: Es erinnert daran, dass nicht nur Menschen sterben. Die
Edward-Said-Bibliothek, die Sie im Gazastreifen aufgebaut haben, ist zerstört.

Abu Toha: Die Edward-Said-Bibliothek war eine englischsprachige Bibliothek. Es gab
dort Bücher aller möglichen Dichter, Romanautoren und Sachbuchautoren aus
Europa und Amerika. Diese Werke liegen nun unter den Trümmern oder sind
verbrannt. Auch meine eigene Hausbibliothek, die eine einzigartige Sammlung von
Büchern enthielt, ist mit dem Haus meiner Familie zerstört worden. Diese Bücher
sind für immer verloren. Die Seiten sind verbrannt, die Worte durch
Luftangriffe getötet, aber der Stift, der mir helfen wird, neue Bücher zu
schreiben, liegt noch irgendwo. Wir werden nicht aufhören zu schreiben; wir
werden nicht aufhören zu lesen.