Migration nur aufwärts Platz 2 – dies ist die größte Angst dieser Deutschen – WELT

Deutschland befindet sich im fünften Jahr der Wirtschaftskrise, die mit der Corona-Pandemie begann. Das zeigt sich auch ganz deutlich in der Umfrage nach den größten Ängsten der Bürger. In den Top-10 haben vier Plätze einen Wirtschaftsbezug.

Inflation, die Folgen der unkontrollierten Zuwanderung, die anhaltende Wirtschaftskrise und große Wohnungsnot sind die Themen, die den Deutschen derzeit am stärksten auf den Nägeln brennen. Dies zeigt die diesjährige Umfrage der R+V Versicherung zu den Ängsten der Deutschen. Der Klimawandel spielt dagegen ebenso wie die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz keine große Rolle mehr.

Die repräsentativen Ergebnisse, der seit mehr als drei Jahrzehnten fortlaufenden Studie spiegeln wider, wie angespannt die Stimmung im Land weiterhin ist. Deutschland befindet sich im fünften Jahr der Wirtschaftskrise, die mit der Corona-Pandemie 2020 begann, mit der Energiekrise nach dem russischen Überfall der Ukraine weiterging und schließlich in einer Rekordinflation und anhaltender Wachstumsschwäche mündete. Dies erklärt, warum wie schon in den vorangegangenen Jahren wieder ökonomische Themen das Ängste-Ranking dominieren. Spitzenreiter ist – nunmehr das dritte Jahr in Folge – die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten.

Obwohl die Statistiker seit dem Sommer den Rückgang der Inflationsrate auf unter zwei Prozent melden, bleibt die Mehrheit der Bevölkerung skeptisch: 57 Prozent der Befragten befürchtet weiter steigende Lebenshaltungskosten. Zum einen wirke die Erfahrung der starken Geldentwertung in den Jahren 2022 und 2023 nach, sagt die Politikwissenschaftlerin Isabelle Borucki von der Philipps-Universität Marburg, die die Studie wissenschaftlich begleitet hat.

Zum anderen erlebten die Menschen tagtäglich, dass Lebensmittel oder Dienstleistungen viel teurer geworden seien. Gerade für tagtägliche Güter wie etwa Butter stieg der Preis zuletzt auf Rekordniveau, was die „gefühlte Inflation“ höher ausfallen lässt, als die derzeit tatsächlich gemessene. Hinzu kommt, dass die Deutschen traditionell sensibel auf Inflation reagieren und das Thema ein Dauerbrenner ist: Seit 1992 landete die Furcht vor steigenden Lebenshaltungskosten 14 Mal auf Platz eins, obwohl in den meisten Jahren die Inflationsrate niedrig war. Dies zeigt, dass viele Menschen den offiziellen Daten nur bedingt vertrauen.

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Auch die hohen Wohnkosten setzen den Deutschen zu. Mehr als jeder Zweite fürchtet, hiervon überfordert zu werden. Der Traum von den eigenen vier Wänden ist für viele Menschen inzwischen unbezahlbar geworden. Und auch die Miete plus Nebenkosten ist in den Zeiten der akuten Wohnungsnot vor allem in vielen Ballungsräumen über die Jahre immer teurer geworden. Für Borucki zeigt sich in der Umfrage deutlich, dass die Ampel bei diesem sozial hoch brisanten Thema „hinter ihren Versprechungen zurückgeblieben“ sei. Die Bundesregierung hatte angekündigt, dass jährlich 400.000 neue Wohnungen gebaut würden. Dieses Ziel wurde seit 2022 stets weit verfehlt.

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Eine weitere ökonomische Angst der Deutschen dreht sich um die leeren Staatskassen. So sorgt sich die Hälfte der Bevölkerung vor steigenden Steuern oder Leistungskürzungen. Zumal fast ebenso viele Befragte mit einer sich weiter verschlechternden Wirtschaftslage rechnen.

Immerhin empfindet die Bevölkerung die Wirtschaftskrise aber nicht mehr ganz so bedrohlich, wie nach dem Corona-Lockdown oder zu Beginn des Krieges in der Ukraine. Denn mit Blick auf die finanziellen Sorgen haben die Ängste etwas nachgelassen.

Deutlich zugenommen haben hingegen die Befürchtungen, dass der Staat durch die hohe Zahl an Flüchtlingen überfordert sei. Auch sorgt sich jede Zweite vor wachsenden Spannungen infolge der starken Zuwanderung von Ausländern. Für die jüngsten Teilnehmer der Befragung, die 14- bis 19-Jährigen, ist die Zuwanderung sogar klar das dominante Angstthema. Aber auch in allen anderen Altersgruppen rangiert es unter den Top drei.

Im Osten ist die Skepsis gegenüber Migration insgesamt stärker als im Westen ausgeprägt. Die Politikwissenschaftlerin Borucki monierte, dass grundlegende Probleme bei der Zuwanderung und der Integration zu lange nicht angegangen worden seien. „Das wurde schlicht verschlafen.“ Und die populistische Parteien AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht heizen die Stimmung noch an. Allerdings war die Angst vor den Folgen der Migration während der Flüchtlingskrise 2015/2016 noch größer, als dies derzeit der Fall ist. Stark zugenommen hat indes die Angst vor politischem Extremismus. Im Vordergrund steht dabei der islamistische Terror, gefolgt von rechtem Radikalismus.

Schlechte Schulnoten für Politiker

Alles in allem sind die Deutschen trotz der multiplen Krisen mit Kriegen, Wachstumsschwäche und Populismus aktuell weniger besorgt, als dies noch im vergangenen Jahr der Fall war. Wie der Leiter der Studie Grischa Brower-Rabinowitsch hervorhob, fiel der sogenannte Angst-Index – der durchschnittliche Wert über alle gemessene Ängste – etwas und ist deutlich von den Höchstwerten entfernt, die in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit nach der Jahrtausendwende sowie nach der Finanzkrise 2010 und in der Flüchtlingskrise 2016 erreicht wurden.

Fast völlig verschwunden ist hierzulande die Sorge vor einem Jobverlust. Nur noch jeder Fünfte nennt diese Angst – so wenig, wie in keinem anderen Jahr seit der ersten Befragung 1992.

Auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen ist allerdings das Ansehen der Politiker. In Schulnoten bewertet, gibt die Bevölkerung der Politik im Durchschnitt nur eine Vier. Und ein Drittel der Befragten verteilt sogar eine Fünf oder Sechs. Das bezieht sich sowohl auf die Regierung als auch auf die Opposition. Dabei zweifeln die Ostdeutschen noch deutlich stärker als die Westdeutschen die Kompetenz der Politiker an. Ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl sollte dieses vernichtende Zeugnis den etablierten Parteien zu denken geben.

Dorothea Siems ist Chefökonomin der WELT. Die promovierte Volkswirtin erhielt 2011 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.

Source: welt.de