Michael Kellner: Habecks Mann für den Osten

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Es ist ein Geburtstag, zu dem Michael Kellner an diesem sonnigen Morgen Anfang Oktober anreist. Aber ein potenziell problematischer. Die Total-Raffinerie von Leuna in Sachsen-Anhalt feiert ihr 25-jähriges Bestehen mit einer Festveranstaltung im hiesigen Kulturhaus. Unter normalen Umständen könnte Michael Kellner, 45, parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, entspannt dabei sein. Ein freundliches Grußwort halten, bei immerhin einem der umsatzstärksten Unternehmen des Ostens.

Aber die Umstände sind ja nicht normal, erst recht nicht für eine Raffinerie, die bis vor Kurzem mit russischem Öl arbeitete. Und so darf man gespannt sein, was Kellner hier erwartet. Der Grünen-Politiker kümmert sich seit Beginn der Legislatur in Robert Habecks Ministerium um den Osten.

Eigentlich wäre das kein Job, mit dem man in der ersten Reihe steht. Nun aber, da die ohnehin nicht besonders starke Ostwirtschaft angesichts der hohen Energiepreise und der Inflation um ihren Fortbestand bangt, ist Kellner plötzlich im Fokus. Er soll sicherstellen, dass die neue Bundesregierung als eine wahrgenommen wird, die den Osten nicht vergisst. Dass sie sich hier, wo die Menschen „denen da oben“ allgemein und den Grünen im Besonderen öfter als anderswo misstrauen, wirklich kümmert.

Offiziell ist der aus Gera stammende Kellner Mittelstandsbeauftragter der Regierung. Denn es gibt ja schon einen Ostbeauftragten, Carsten Schneider von der SPD. Aber Habeck wollte, dass in seinem Ministerium zusätzlich jemand für diese Region zuständig ist. Bislang arbeiten Schneider und Kellner harmonisch zusammen. Sie kommen beide aus Thüringen – Schneider stammt aus Erfurt – und sprechen respektvoll übereinander. Schneider sagt: „Viele sorgen sich um den Osten, aber es kümmern sich nur wenige.“

Während es Schneider allerdings zu einiger Prominenz geschafft hat, ist Michael Kellner den meisten im Land noch ziemlich unbekannt. Wer ist Habecks Mann für den Osten?

Dass Habeck vor einem Jahr ausgerechnet ihn mit dem wichtigen Staatssekretärsposten betraute, kam überraschend. Denn als Freunde galten die beiden nicht. Im Frühjahr war es zum Bruch zwischen ihnen gekommen, obwohl das keiner laut so aussprechen würde. Kellner, der einmal fünf Jahre Büroleiter von Claudia Roth gewesen war und zum linken Flügel der Grünen gehört, unterstützte hinter den Kulissen nicht Habeck bei einer möglichen Kanzlerkandidatur, sondern die andere Parteivorsitzende zu dieser Zeit, Annalena Baerbock.

Damals war Kellner Bundesgeschäftsführer und somit eine Art Generalsekretär. Gemeinsam mit den beiden Parteivorsitzenden leitete er die Bundesgeschäftsstelle, verantwortete Parteitage und Wahlkämpfe, war für Kampagnen und die Mitgliederentwicklung zuständig. „Es war meine Aufgabe, für andere Bühnen zu bauen und nicht selbst als Erster auf einer zu stehen“, beschreibt er es im Rückblick. Für die Grünen war diese Zeit die bisher erfolgreichste ihrer Geschichte.

Baerbock, Habeck und Kellner wirkten lange wie ein eingeschworenes Team: bei der Europawahl 2019 und den anschließenden Landtagswahlen wurden regelmäßig Bestergebnisse erzielt; von 2016 bis Ende 2021 verdoppelte sich die Mitgliederzahl auf 125.000. Kellner war stolz darauf, die Wahl zwischen zwei ähnlich beliebten potenziellen Kanzlerkandidaten zu haben. Er erzählte das in Interviews immer wieder – auch als Seitenhieb auf die SPD, die sich früh und eher aus Mangel an Alternativen für Olaf Scholz entschieden hatte.

Kellner will seine Schuld nicht wegreden

Aber Kellner übersah dabei in seiner Funktion als Scharnier zwischen Baerbock und Habeck, welch großer Fehler es war, die Kandidatenfrage allein in die Hände der beiden zu legen. Die Parteivorsitzenden wurden, je näher der Tag der Entscheidung rückte, trotz äußerlich zur Schau getragener Harmonie immer stärker zu Konkurrenten und waren augenscheinlich nicht in der Lage, sich gütlich zu einigen. Die schöne Erzählung von der Geschlossenheit der Grünen, an der Kellner maßgeblich mitgearbeitet hatte, wurde zerstört.

Mittlerweile scheint der Wahlkampf weit weg, aber noch immer fällt es Kellner schwer, über die damalige Zeit zu sprechen. Sie markiert seinen bisher größten Misserfolg, schließlich trug er für den von zahlreichen Pannen überschatteten Wahlkampf die Verantwortung. Er war beispielsweise derjenige, der entschied, die ersten Plagiatsverdachte gegen Baerbocks Buch mit dem Vorwurf des Rufmords zu kontern.

Kellner will seine Schuld nicht wegreden. Er sagt: „Ich werfe mir im Nachhinein vor, nicht hart genug dagegen interveniert zu haben, dass das Buch erscheint. Es war schließlich nicht Teil unserer Wahlkampfstrategie und hat unglaublich viel Energie und Zeit gekostet, die uns an anderer Stelle gefehlt hat. Außerdem haben wir es nicht geschafft, die Wucht der Angriffe klug zu kontern. Es hilft halt nicht, zu sagen, es wäre Rufmord, wenn es keiner ist.“ Solche selbstkritischen Sätze hört man von Grünen selten. Wenn es um den Wahlkampf geht, retten sich viele in abwiegelnde Floskeln. Zwar erreichte die Partei bei der Bundestagswahl ihr bisher erfolgreichstes Ergebnis, doch blieb sie mit 14,8 Prozent weit hinter den eigenen Erwartungen zurück. Im Osten fiel die Zustimmung zu Baerbock besonders gering aus.

Die Grünen haben hier jenseits der großen Städte das Image einer stark westdeutsch geprägten Partei. Sind vielerorts eine Art Feindbild. Wenn sie eines Tages wirklich den Kanzler oder die Kanzlerin stellen wollen, brauchen sie in dieser Gegend mehr Stimmen. Müssen sie hier aus der Defensive kommen.

Auch deswegen darf und soll sich Kellner nun als Staatssekretär insbesondere um diese Region kümmern. Aber kommt das wirklich an?

Das lässt sich in Leuna erfahren, beim Jubiläum der Raffinerie. Der hiesige Chemiepark ist mit rund 12.000 Arbeitsplätzen der größte Chemiestandort in Ostdeutschland. Zwei gewaltige Aufgaben kommen hier auf die Bundesregierung zu, zwei Krisen müssen gleichzeitig bewältigt werden: die Energiekrise und die Klimakrise. Einerseits muss die Raffinerie in Leuna ebenso wie die im brandenburgischen Schwedt sehr schnell unabhängig werden von russischem Öl. Andererseits soll am gesamten Standort die ökologische Transformation gelingen. Es ist der zweite große Umbruch seit 1989.

Die Stimmung in der gesamten Branche ist laut einer Umfrage des Ifo-Instituts München so schlecht wie seit den frühen Neunzigerjahren nicht mehr. Kellner sagt: „Ich erlebe im Osten immer wieder ein sehr zerstörtes Vertrauen in Politik. Ankündigungen gegenüber ist man sehr skeptisch, man will, dass politische Versprechen auch real werden. Erst wenn die Leute sehen, dass sich wirklich etwas verändert, schenken sie einem Glauben.“

Vielleicht kommt ihm zugute, dass er die Region nicht nur kennt, sondern im Osten auch aufgewachsen ist. Kellner zeigt sich als Kumpeltyp, gern mal zu Scherzen aufgelegt.

Der Einzelgänger

In Leuna wird er an diesem Oktobermorgen freundlich empfangen. Total ist ein französisches Unternehmen, das sich bereits im April, kurz nach Kriegsbeginn, freiwillig dazu entschloss, auf russisches Rohöl zu verzichten und es durch norwegisches zu ersetzen. Anders als in Schwedt, das bis vor Kurzem Eigentum von Gazprom Germania (also Rosneft) war und nun von der Bundesnetzagentur treuhänderisch verwaltet wird, hat es hier keine größeren Demonstrationen der Belegschaft gegeben. Die Stimmung ist wie überall angespannt, aber keineswegs so aufgebracht wie mitunter in Schwedt, wo Habeck und Kellner auf der Bühne ausgebuht wurden.

In Leuna schmeichelt man eher einander. CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff, der natürlich auch gekommen ist, scherzt, dass Kellner in der letzten Zeit beinahe wöchentlich da gewesen sei, „um nach dem Rechten zu schauen“. Kellner antwortet darauf, schmunzelnd, dass er sich als Grüner nie hätte vorstellen können, ausgerechnet einer Ölraffinerie zum Geburtstag zu gratulieren. „Mir ist jedoch auch sehr bewusst, wie wichtig im Moment die Frage der Versorgungssicherheit in Deutschland ist und dass die Raffinerie am Anfang einer ganzen Kette in der ostdeutschen Chemieindustrie steht“, sagt er. 1300 Tankstellen werden von Leuna aus beliefert, die Raffinerie ist der zweitgrößte Methanol-Produzent in Europa.

Natürlich lässt sich von diesem Termin in Leuna noch nicht darauf schließen, wie gut es Kellner gelingen wird, die größten Verheerungen innerhalb der ostdeutschen Wirtschaft abzuwenden. Aber eines lässt sich besichtigen: dass neben der oftmals beschriebenen Wut auf den Straßen auch eine andere ostdeutsche Realität existiert, eine ruhigere.

Kellner trifft auf eine Unternehmerschaft, die ihm und seiner Partei skeptisch, aber auch neugierig gegenübertritt. Zwar fremdeln viele damit, dass das Wirtschaftsministerium jetzt von Grünen geführt wird. Andererseits würde kaum einer mehr behaupten, dass am Ausbau der Erneuerbaren und einer ökologischen Transformation ein Weg vorbeiführt. Zumal Industrieansiedlungen immer häufiger dort gelingen, wo grüne Energie vorhanden ist. In Sachsen-Anhalt weiß man das, seit Intel vor einigen Monaten ankündigte, in Magdeburg ein milliardenteures Werk zu errichten – auch wegen der zahlreichen Windräder in dieser Region.

Zu denjenigen, die in Ostdeutschland Kritik an der Bundesregierung üben, gehört Christof Günther. Er ist als Geschäftsführer von Infraleuna für den gesamten Chemiepark zuständig. Günther sagt, dass manche Hilfsprogramme in Leuna nichts bewirken würden (siehe Interview rechts). Aber spricht man ihn auf Kellner an, findet er freundliche Worte. Kellner habe ihn schon im März, also kurz nach Ausbruch des Krieges, zum ersten Mal angerufen, erzählt Günther. „Ich habe das sehr geschätzt. Das Ministerium in Berlin ist von den praktischen Problemen vor Ort ziemlich weit weg. Kellner aber wollte verstehen, welche Herausforderungen wir hier haben.“ Zumindest eine gewisse Präsenz also konnte Kellner schon demonstrieren.

Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass noch ein anderer Ostdeutscher (der sich in der Kandidatenfrage ebenfalls gegen Habeck stellte) heute zum engsten Führungsteam des Ministers gehört. Die Rede ist von Robert Heinrich, dem ehemaligen Büroleiter von Baerbock und Habeck. Er, in Leipzig geboren, leitet den Koordinierungsstab, organisiert die Zusammenarbeit mit dem Kabinett sowie dem Bundestag und dem Bundesrat.

Michael Kellner selbst übrigens möchte die Frage, warum er im Wirtschaftsministerium gelandet ist, nicht beantworten. Er wird dort als gewissenhaft und zielstrebig beschrieben, was freundlich klingt, aber auch ein bisschen distanziert. Innerhalb der Grünen gilt er, obwohl er die Partei so lange mitgeführt hat, als Einzelgänger, der sich nun, da er Staatssekretär ist, aus vielen Fragen heraushalte. Wäre der Wahlkampf erfolgreicher verlaufen, hätte er wahrscheinlich selbst nach dem Amt des Parteivorsitzenden gegriffen. Aber er wirkt relativ versöhnt damit, dass es anders kam.

„Jetzt kann ich mich der Wirklichkeit stellen“, sagt er. „Mich um reale Probleme kümmern zu können hat für mich etwas sehr Attraktives. Auch in diesen schwierigen Zeiten.“ Es klingt, als mache er sich selbst ein bisschen Mut.