„Mein Name ist Estela“ von Alia Trabucco Zerán: Das Grauen hinter den Vorhängen

Es sind Details, kleine starke Szenen, in denen sich schon auf den ersten Seiten des Romans Mein Name ist Estela der chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán Wesentliches andeutet, das im weiteren Verlauf von Bedeutung sein wird. Estela tritt ihren Dienst als Hausangestellte bei einer wohlhabenden Familie in Santiago an. Sie wird dort auch wohnen. Und da ist etwa diese Schiebetür zur Kammer hinter der Küche, die ihr Zimmer sein soll. Man kann diese Tür nicht richtig schließen, sie ist zudem aus Milchglas. Estela wird keinen wirklichen Rückzugsort haben, sie wird immer alles mitbekommen, selbst an ihrem freien Sonntag. Sie wird ein schattenhafter Teil der Familie werden, ohne je dazuzugehören.

Oder die Kittelschürzen, für jeden Tag eine, von Montag bis Samstag. „Sie kam mir am Hals sehr straff vor“, erzählt Estela, „zu eng für mich, aber als ich den ersten Knopf öffnen wollte, merkte ich, dass da kein Knopfloch war. Ein dekorativer Knopf am Hals der Hausangestellten. Die anderen fünf Schürzen hatten den gleichen falschen Knopf.“ Diese Enge geht über ein körperliches Unbehagen hinaus, es ist die Enge, die ihr Leben als Hausmädchen bestimmen wird und auch die Monotonie ihrer Arbeit deutet sich hier bereits an.

Doch die Geschichte beginnt mit ihrem Ende und nicht mit den ersten Tagen der damals 33-jährigen Estela im Haus des Señors und der hochschwangeren Señora, die kurz darauf ein Mädchen zur Welt bringt. Diese Tage schildert Estela im Rückblick, in einer Art Verhörraum, denn „der Ausgang der Geschichte ist folgender“, so sagt Estela: „Das Mädchen stirbt.“ Und Estela scheint verdächtig, daran schuld zu sein. Ist sie gar die Mörderin der Siebenjährigen?

Dieses Setting erinnert an Leïla Slimanis Roman Dann schlaf auch du, in dem eine Pariser Nanny die ihr anvertrauten Kinder tötet. Auch hier ist das Ende, der Tod der Kinder, gleich zu Beginn bekannt. Das Buch war ein Riesenerfolg. Mein Name ist Estela, der zweite Roman der 1983 geborenen Chilenin, erscheint in 14 Sprachen, sie gilt als eine wichtige Stimme der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur. Ihr Debüt Die Differenz, in dem es um die traumatisierenden Folgen der Pinochet-Diktatur auch für die nachfolgenden Generationen geht, war für den International Booker Preis nominiert. 

Sowenig wie Slimanis Buch ist Trabucco Zeráns Erzählung ein Krimi, auch wenn die Autorin die Frage, wie es zum Tod des Mädchens kam, gekonnt als Spannungselement einsetzt, um eine Geschichte von Klassenunterschieden im von starker sozialer Ungleichheit geprägten Chile zu erzählen.

Sie entscheidet sich dabei für eine radikal subjektive Perspektive, über 240 Seiten spricht ausschließlich Estela: „Mein Name ist Estela, können Sie mich hören?“, fragt sie. „Wenn Sie da sind, dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen: Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, und wenn ich fertig bin, wenn alles gesagt ist, dann lassen Sie mich hier raus“, so lauten die ersten Sätze. Ob hinter der verspiegelten Wand überhaupt jemand zuhört, bleibt offen.

Es ist eine im Wortsinn kammerspielartige Anordnung, inszeniert als ein langer, fließender Monolog. Auf diese etwas konstruiert wirkende Situation, durch die diejenige eine Stimme erlangt, die bislang wenig zu sagen hatte, und zwar eine ausgesprochen eloquente und reflektierte Stimme, muss man sich einlassen. Das gelingt, denn wie eingangs beschrieben, vermag es Trabucco Zerán, sofort Spannung wie auch eine intensive Atmosphäre zu kreieren. 

Im Haus geht es sehr korrekt zu, freundlich, man verkleidet die Anordnungen in Bitten, doch man sieht Estela kaum in die Augen. Ihre ständige Verfügbarkeit ist selbstverständlich. Sie scheint als Individuum nicht zu existieren. An Weihnachten darf sie etwa mit am familiären Esstisch sitzen. Aber als sie in Rock und Bluse erscheint, staunt das Mädchen der Familie: „Die Nana hat ja Kleider.“ Es lacht niemand, „alle taten wir so, als hätten wir es nicht gehört“.

Estela, die aus dem armen Süden nach Santiago gekommen ist, um besser zu verdienen, hatte ihrer Mutter versprochen, bald zurückzukehren. Doch sie schafft den Absprung nicht. Nach dem Tod der Mutter braucht sie erst recht Geld, aber es sind nicht nur materielle Gründe, die sie am Gehen hindern. Es ist eine Dynamik der Entfremdung. Immer wieder verliert sie den Bezug zur Wirklichkeit, bis sie sich ihr im nächsten Moment umso stärker ausgesetzt sieht. Trabucco Zerán beschreibt dieses seltsame Verhaftetsein in der unerträglichen Situation wunderbar durch körperliche, sinnliche Wahrnehmung hindurch. Estela fühlt sich von ihrem Körper abgespalten, zugleich beschreibt die Autorin die monotone Redundanz der Arbeit explizit als einen Raubbau am Körper Estelas: „Aus der Ferne betrachtete ich wieder diese Hände, die schwielige Haut auf den Knöcheln, die entzündeten Gelenke. Zwei Hände, verschränkt auf einem Körper, der langsam und unausweichlich an so viel Wirklichkeit zugrunde gehen würde.“

Trabucco Zerán zeichnet durch Estelas Augen auch ein Psychogramm der in emotionaler Verhärtung erstarrten Familie. Im Mittelpunkt steht das Unglück des Kindes. Auch hier erweist sich die Autorin als Meisterin detailstarker, einprägsamer Szenerien und Bilder. Man schaudert, lesend, wie sich das Mädchen absichtsvoll den Finger bricht, um bloß nicht ans Klavier zu müssen. Denn das Klavierspiel ist eine weitere Maßnahme der Perfektionierung, der das Kind von Beginn an ausgesetzt ist. Auf die Leistungsorientierung des Vaters und die hilflose Komplizenschaft der Mutter reagiert es unter anderem mit Essensverweigerung. Eine Sprache für seine Verzweiflung hat das Mädchen so wenig wie Estela zu diesem Zeitpunkt für die ihre.

Aus dieser Gemeinsamkeit ergibt sich ein kompliziertes Näheverhältnis zwischen ihnen. Die Autorin spiegelt es in der sich zuspitzenden Verzweiflung beider und diese Spirale wiederum treibt die Erzählung zu ihrem Ende hin rasant an. Ein Ende, das auf andere Art düster ist, als es zunächst scheint. 

Da ist diese Wut, mal unterschwellig vibrierend, mal offen sichtbar; auch sie verbindet Estela und das Mädchen. Und Wut, sagt Trabucco Zerán in einem Interview, sei eine politische Emotion, die insbesondere bei Frauen oft negiert werde. Sie macht sie in stummen Handlungen und in der Stimme Estelas spür- und hörbar. Wirklich befreiend und ermächtigend aber sind die Wut und das Sprechen in ihrem eindringlichen Roman, wie auch so oft in der Realität, nicht. Die Tür des Verhörraums bleibt verschlossen: „Ihr müsst mir aufmachen. Hallo? Hört ihr mich? Ist da wer?“

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela. Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy. Hanser Berlin, 240 Seiten, 24 Euro