Maximilian Steinbeis: „Das ist kein Problem von fernen Ländern“

Fidesz, PiS, AKP: An autoritären Vorbildern für populistische und antidemokratische Parteien mangelt es weltweit nicht. Aus diesem Wissen heraus analysiert der Jurist und Autor Maximilian Steinbeis, dass die AFD noch nicht einmal an der Macht sein muss, um die Demokratie auszuhebeln.

der Freitag: Herr Steinbeis, mit dem sogenannten Thüringen-Projekt haben Sie und Ihr Team von „Verfassungsblog“ erforscht, dass die AfD die Demokratie zersetzen könnte, wenn sie die entsprechenden Mittel an die Hand bekommt. Wie kamen Sie auf die Idee?

Maximilian Steinbeis: Auf dem „Verfassungsblog“ beschäftigen wir uns seit vielen Jahren mit autoritären, populistischen Regimes wie Ungarn oder Polen. Daraus entstand die Transferüberlegung: Was wäre, wenn jemand diese Strategie, die wir dort am Werke sehen, in Deutschland, im deutschen Rechts- und Verfassungskontext, versucht umzusetzen?

Und warum Thüringen?

Thüringen deshalb, weil dort die Parteienlandschaft besonders instabil ist und bereits in der aktuellen Zusammensetzung schon keine Regierungsmehrheit im Landtag vorhanden ist. Natürlich waren die Umfragewerte und die Beschaffenheit des Thüringer Landesverbands der AfD auch Faktoren für unsere Entscheidung.

Wie verwundbar könnte die Demokratie nach den Landtagswahlen werden?

Das wahrscheinlichste Szenario derzeit ist, dass die AfD die stärkste Fraktion im Thüringer Landtag wird. Was passiert aber, wenn sie mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag erhält? Dann hat sie eine sogenannte Sperrminorität und kann alle Entscheidungen blockieren, die mit einer Zweidrittelmehrheit gefällt werden müssen. Und das ohne jegliche Regierungsverantwortung, ohne Ministerämter und ohne dass sie die exekutive Staatsgewalt in die Hände bekommt.

Sie schreiben, dass ein Drittel bis die Hälfte der Posten in der Justiz in den nächsten Jahren neu besetzt werden müssten, Stichwort: Pensionierungswelle. Sie hoffen auf die Mobilisierung junger Jurist:innen, die sich explizit nach Thüringen bewerben, um den Kampf gegen rechts aufzunehmen.

Wer in der Position ist, die Stellen zu besetzen, der kann die künftige Ausrichtung der Justiz bis zu einem gewissen Grad bestimmen. Die Richterstellen werden vom Justizministerium besetzt, diese müssen in einem Richter-Wahlausschuss bestätigt werden. Dieser Richter-Wahlausschuss wird mit einer Zweidrittelmehrheit besetzt. Die AfD könnte, wenn sie die Sperrminorität hat, die Bestellung dieser neuen Richter:innen blockieren – und damit die Funktionsfähigkeit der Justiz insgesamt.

Wozu?

Vor allem kann sie dieses Mittel einsetzen, um ihre Erzählung wahr zu machen: nämlich die autoritär-populistische Erzählung, dass diese Demokratie so nicht funktioniert und die Eliten, die da regieren, nicht das wahre Volk repräsentieren. Und dass dieses Land nur dann wieder funktionieren kann, wenn sie selbst an die Macht gelangen.

Hat man sich in Deutschland zu lange in Sicherheit gewiegt, dass ein solch autoritärer Staatsumbau wie in Ungarn, Polen oder der Türkei nicht passieren würde?

Ich glaube schon, dass man sehr lange versucht hat, diesen Gedanken von sich fernzuhalten, als sei das ein Problem von fernen Ländern, die keine so gefestigte demokratische Kultur haben wir wir. Das war ein fataler Irrtum. Es reicht der Blick über den Atlantik, um zu sehen, dass die älteste und vermeintlich stabilste Demokratie der Welt, die USA, davon massiv affiziert ist. Wir sehen, dass das typisch deutsche Vertrauen in Recht und Verfassung und unsere Erfahrungen aus der Katastrophe des NS-Regimes nicht ausreichen. Es ist nicht damit getan, sich auf die Institutionen und Jurist:innen zu verlassen und zu sagen: Die sollen sich mal darum kümmern. Sondern im Gegenteil: Es ist ein Thema, das die gesamte Zivilgesellschaft mobilisieren muss. Sonst geht das schlecht aus.

Im Kapitel „Etwas tun“ schreiben Sie, dass nicht alle von der Gewalt eines autoritären Regimes gleichermaßen betroffen wären, und nennen vor allem die migrationspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte. Es reicht also nicht, mit dem Finger nur auf die AfD zu zeigen?

Wir sind auch ohne die AfD schon längst auf einem Pfad, der teilweise in eine bedenklich autoritäre Richtung geht. Wenn man sich zum Beispiel den Zustand des Versammlungsrechts anschaut, waren es keine AfD-Innenminister, die die Versammlungsgesetze verändert oder umgesetzt haben, so wie es in den letzten Monaten und Jahren passiert ist. Man sollte vor lauter berechtigter Fokussierung auf die AfD nicht den Fehler machen, nicht zu erkennen, was andere Parteien und politische Akteure auf dem Kerbholz haben.

Was wäre das beste Ergebnis für Thüringen bei den Landtagswahlen?

Das beste Ergebnis wäre eine Regierungsmehrheit, die aus entschlossenen und erklärten Gegnern des autoritären Populismus besteht. Die Umfragen geben das nicht her, aber trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass das möglich bleibt.

Foto: Hannah Katinka Beck

Maximilian Steinbeis (1970 geb.) ist Jurist, Journalist, Autor und Herausgeber des „Verfassungsblogs“. Sein neuestes Buch Die verwundbare Demokratie ist im Juli 2024 im Hanser Verlag erschienen (304 S., 25 €)