Massenproteste in Israel: Dieser Krieg wird längst sekundär innerpolitisch geführt

Nach dem Fund der sechs von der Hamas getöteten Geiseln im Gazastreifen erlebt Israel die größten Proteste seit dem 7. Oktober. Hunderttausende blockieren seit Sonntag Straßen, Kreuzungen, Bahnhöfe. Die größte Gewerkschaft Histadrut rief am Montag zum Generalstreik auf, musste ihn aber nach wenigen Stunden beenden. Das Arbeitsgericht in Tel Aviv hatte ihn nach einem Antrag von Finanzminister Bezalel Smotrich untersagt. Der Streik sei politisch motiviert gewesen, so lautet die Begründung.

Dieser Krieg, der längste seit der Gründung Israels, wird längst auch innenpolitisch geführt. Anfangs hatten sich viele Geiselfamilien nicht politisch geäußert, und Arnon Bar-David, Vorsitzender der einflussreichen Gewerkschaft, hatte sich Forderungen nach einem Generalstreik verwehrt. Schon als er als Gast bei der Herzliya-Sicherheitskonferenz im Juni sprach, unterbrachen ihn Protestierende im Publikum mit der Forderung nach mehr Unterstützung. Es sei nicht die Aufgabe einer Gewerkschaft, politisch motivierte Streiks zu veranstalten, sagte Bar-David und bat um Verständnis, sich nicht so angreifbar machen zu können.

Er behielt recht: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verunglimpfte den in Israel über politische Lager hinweg angesehenen Gewerkschaftschef in der Kabinettssitzung am Montag. Die Entscheidung, die Wirtschaft lahmzulegen, gleiche der Aussage: „Sinwar − nachdem ihr sechs Geiseln ermordet habt, unterstützen wir euch“, zitiert die Zeitung Ha’aretz Netanjahu. Bar-David konterte. Netanjahu verbreite „aufrührerische Behauptungen“, sagte er. „Ein Premierminister, unter dessen Aufsicht das jüdische Volk die größte Katastrophe seit dem Holocaust erlitten hat, sollte seine Bemühungen in die Rückkehr unserer Söhne und Töchter investieren, damit sie lebendig und nicht in Särgen zurückkehren.“

Der Fokus der Wut verschiebt sich

Die Hamas hat die sechs Geiseln mit Kopfschüssen hingerichtet, nun inszeniert und instrumentalisiert sie die Morde für ihre Propaganda. Am Montag veröffentlichte die Terrororganisation Fotos, die die sechs Opfer lebend zeigen. Sie droht zudem mit der Veröffentlichung eines Videos, das entstanden sein soll, kurz bevor die Geiseln getötet wurden. „Netanjahus Beharren darauf, die Gefangenen durch militärischen Druck zu befreien, anstatt eine Einigung zu erzielen, bedeutet, dass sie in Leichentüchern zu ihren Familien zurückgebracht werden“, hieß es dazu in einer Hamas-Stellungnahme.

Die Hamas hat Israel angegriffen. Sie hat damit den Gazakrieg ausgelöst. Sie hat insgesamt mehr als 240 Menschen verschleppt und entschieden, die sechs zu töten. Sie trägt die Schuld an dem Leid, das nun Hunderttausende Menschen in Israel auf die Straßen treibt. Wer den zunehmend mehr werdenden Protestierenden in den vergangenen Monaten aber zugehört hat, konnte beobachten, wie sich der Fokus ihrer Wut verschiebt. Weg von den Terroristen, hin zum eigenen Ministerpräsidenten, von dem sie verlangen, dass er alles in seiner Macht Stehende unternimmt, um die Geiseln zu retten.

„Ich entschuldige mich im Namen des Staates Israel dafür, dass wir dich bei der schrecklichen Katastrophe vom 7. Oktober nicht beschützt haben, dass wir dich nicht sicher nach Hause bringen konnten“, sagte Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog bei der Beerdigung von Hersh Goldberg-Polin, einem der sechs Getöteten, am Montag. Herzog sprach damit aus, worum des den Protestierenden geht: Sie wollen, dass Netanjahu ihr Leid ernst nimmt und darauf basierend seine Entscheidungen trifft. 

Welche Werte halten das Land noch zusammen?

Und es geht zunehmend auch um das Fundament Israels, die Frage nämlich, welche Werte diese Gesellschaft noch zusammenhalten. „Herr Ministerpräsident, wir fordern Sie auf, unsere gemeinsamen jüdischen Werte hochzuhalten und den Geiseln, deren Leben in Ihren Händen liegt, Priorität einzuräumen“, fordern Adi und Yael Alexander, die Eltern der Geisel Edan Alexander, in einem Gastbeitrag für die New York Times am Montag.

Schaut man auf Umfragen, wie der Krieg Israel verändert, erkennt man widersprüchliche Entwicklungen. Mal sagt die Mehrheit der Befragten, dass Netanjahu sein Amt räumen solle. Mal steigen seine Zustimmungswerte − wie zuletzt, nachdem das iranische Regime zum Vergeltungsangriff wegen der Tötung des Hamas-Führers Ismail Hanija in Teheran aufgerufen hatte.

Dahlia Scheindlin, Analystin und Expertin für Meinungsumfragen, erklärte das mit der komplexen Lage, in der sich Israel befinde: Die Tötung Hanijas sowie den Angriff auf den Hisbollah-Kommandeur Fuad Schukri hätten viele Israelis positiv wahrgenommen, schrieb Scheindlin kürzlich in der Ha’aretz, allerdings: „Ziemlich genau seit Beginn des Krieges will die Mehrheit oder eine Mehrheit der Israelis, dass die Geiseln im Rahmen eines Abkommens zurückkehren, selbst um den ‚Preis‘ eines Waffenstillstands.“ Auch sie stellt heraus, dass ein Abkommen nicht nur an Netanjahu scheiterte. „Die Hamas weiß sehr wohl, wie man Nein sagt, und hat dies auch schon mehrfach getan.“

Das „Nein“ der Hamas macht es Netanjahu tatsächlich leicht, sich nicht beeindrucken zu lassen von den Protestierenden. Statt ihnen entgegenzukommen mit ihrer Forderung, alles für ein Abkommen zu unternehmen, rechtfertigt er seine politischen Entscheidungen damit, dass die Hamas Schuld an dem Leid trägt. Am Montagabend erklärte er etwa in einer Pressekonferenz, dass Israel weiterhin auf die Präsenz am sogenannten Philadelphi-Korridor, dem Grenzstreifen zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, bestehe. Die Hamas dagegen besteht auf einen Abzug aller israelischen Soldaten als Voraussetzung für einen Deal.

„Du willst keine Einigung, du willst den Philadelphi-Korridor in ein Massengrab verwandeln“, warf Danny Elgarat, der Bruder der Geisel Itzik Elgartat, Netanjahu während des Protests am Montag in Tel Aviv vor. Und der ebenfalls teilnehmende Eli Elbag, Vater der Geisel Liri Elbag, sagte dem Nachrichtensender Kanel 12: „Wer behauptet, diese Proteste seien politisch, sollte sich schämen. Wenn jemand meint, die Sicherheit des Landes sei politisch, kann er zur Hölle fahren.“

Für Dienstag wurden weitere Proteste angekündigt.