Macron wollte Klarheit? Voilà: Le Pen und die neue linke Volksfront

Es war die erste Runde einer Parlaments-, keiner Präsidentenwahl. Emmanuel Macron ist trotzdem abgewählt. Er hat dieses Votum über eine neue Nationalversammlung gewollt und musste in Kauf nehmen, dass daraus ein Plebiszit über seine Präsidentschaft wurde. Er hat dem Wähler die Vertrauensfrage gestellt, der bei einer Wahlbeteiligung von über 60 Prozent ziemlich eindeutig antwortete. Das endgültige Ergebnis nach dem zweiten Wahlgang in einer Woche dürfte daran wenig ändern.

Der Bürger will sich die Politik Untertan machen, statt deren Untertan zu sein

Frankreichs nächste Regierung und ein polarisiertes Parlament werden – mehr noch als in anderen EU-Staaten, in denen es ähnliche Verhältnisse gibt – das Abbild einer von Sorgen und Zorneswallungen hin- und hergerissenen Gesellschaft sein. Aufgestaute, unverkennbare Wut hat den Willen des Bürgers befeuert, sich die Politik Untertan zu machen, statt deren Untertan zu sein. Davon profitiert hat erwartungsgemäß der rechte Rassemblement National (RN) mit 34 bis 35 Prozent – doch ebenso der linke Front Populaire mit einer Zustimmung um fast 30 Prozent und damit keineswegs abgeschlagen, sondern in Reichweite.

Das ist keine Gefahr für die Demokratie, das ist Demokratie. Wird jetzt dem Volk als „Souverän“ bescheinigt, „populistisch“ zu sein, weil es sich gegen Macron, dessen irrlichternden Regierungsstil und neoliberale Agenda zur Wehr setzt? Weil der Bürger für sich genutzt hat, was ihm die Demokratie durch Wahlen zu bieten hat? Diese Parlamentswahl wurde durch kein Referendum oder welchen Akt an politischer Willensbildung auch immer erzwungen. Sie kam durch die einsame Entscheidung eines Präsidenten zustande. Emmanuel Macron wollte „Klarheit“!

Nun gibt es diese Klarheit, und sie hat ein demokratisches Mandat. Das gilt es auch deshalb festzuhalten, weil Macrons Präsidentschaft seit 2017 eher selten zur Ehrenbezeugung vor demokratischen Standards taugte. Sie stand häufig im Geruch des Illiberalen, wenn man sich nur vergegenwärtigt, wie die Rentenreform 2022/23 Gesetzeskraft erlangte. Sie betraf die Lebensverhältnisse von Millionen Franzosen und wurde an der Nationalversammlung vorbei dekretiert. Macron bediente sich gern des Verfassungsartikels 49/3, den er als Blankovollmacht missbrauchte, um durchzuregieren. Das traf auf die Arbeitsmarktreformen ebenso zu wie die Abschaffung der Solidaritätssteuer auf hohe Vermögen oder die Einführung der Flat Tax auf Dividenden.

Die erreichten 29 Prozent der Linken sind eine Kampfansage an Macron und Marine Le Pen gleichermaßen

Wagt man einen historischen Vergleich, um den Blick zu schärfen, erinnerte das Machtgebaren Macrons nach der Wiederwahl 2022 an den deutschen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, dessen autokratische Praxis der Notverordnungen ab 1930 demokratischen Gepflogenheiten und Institutionen derart zusetzte, dass sich die NSDAP mit ihren diktatorischen Ambitionen nur bestätigt fühlen und die Weimarer Republik vollends schleifen konnte.

So erwies sich Macrons autoritäres Regime für den Rassemblement National als wahrer Glücksfall. Ob in der Migrationspolitik, bei der inneren Sicherheit und den Polizeigesetzen – die programmatische Exklusivität der Rechtsnationalen wurde zur politischen Normalität. Was sollte daraus anderes geschlussfolgert werden als ihre Regierungsfähigkeit? Insofern wäre nach dieser Wahl eine Cohabitation mit dem Rassemblement National nur logisch. Allerdings kann es nur eine Regierung des RN – nicht mit dem RN – geben. Warum sollten sich Marine Le Pen und Parteichef Jordan Bardella auf eine Mehrparten-Regierung einlassen, die der Präsident angesichts absehbarer Differenzen dominieren könnte? Dass sich Macron auf ein solches Arrangement eingestellt hat, zeigte sich im Wahlkampf, als er besonders die Volksfront attackierte und als „Islamo-Linke“ sowie als Sammelbecken der Sozialhilfeempfänger denunzierte.

Einen Tag nach der Europawahl vom 9. Juni äußerte sich Macron über die Auflösung des Parlaments: „Ich habe das seit Wochen vorbereitet und bin ganz happy. Ich habe meine Granaten zwischen ihre Beine geschleudert. Jetzt werden wir sehen, wie sie damit zurechtkommen.“

Der RN ist damit augenscheinlich „zurechtgekommen“, desgleichen die linke Volksfront mit ihrem gewollten Bezug auf die 1930er Jahre und die Linksregierung von 1936 unter dem Sozialisten Léon Blum. Die erreichten 29 Prozent sind eine Kampfansage an Macron und Marine Le Pen gleichermaßen.

Nach dieser Wahl ist nicht nur Macron innerhalb der EU geschwächt, sondern auch die EU mit Macron

Nachvollziehbar hatte Macrons Entscheidung, ad hoc Parlamentswahlen anzusetzen, in mancher EU-Hauptstadt Besorgnis, wenn nicht Bestürzung ausgelöst. Wurde nicht offen von einem Fehler gesprochen, so doch das enorme Risiko dieses Votums geltend gemacht und der Hang zum Würfelspiel gemeint, bei dem dem Präsidenten vorhersehbar der große Wurf versagt blieb. Nach dieser Wahl ist nicht nur Macron innerhalb der EU geschwächt, sondern auch die EU mit Macron. Es bleibt abzuwarten, wie sich das etwa auf die Ukraine-Politik auswirkt, bei der Macron zuletzt mit seinem Vorstoß in Sachen Truppenentsendung in die Ukraine einer der Falken war und auch in diesem Fall von Risikoabwägung wenig hielt.

Wenn die EU das Italien Giorgia Melonis relativ mühelos geschluckt hat, könnte es sich an einem Frankreich der Cohabitation, falls der Rassemblement National in Regierungsverantwortung kommt, durchaus verschlucken. Wohl steht ein Austritt aus EU und Eurozone längst nicht mehr auf der Agenda des RN, doch schwebt dem ein „Europa der Nationen und Vaterländer“ vor, das Macht aus Brüssel in die EU-Staaten zurückbringt. Und dies nicht nur symbolisch, sondern faktisch.

Bei allem, was der RN tut, wird er nicht auf Kompromisse setzen, sondern auf den Nachweis, sich durch Regierungshandeln Legitimität zu verschaffen und den Wählerauftrag zu erfüllen. Es geht um die Präsidentschaft 2027.